„Der 1. April hatte vorrang“, schrieb gestern Angela, meine Literatur-Partnerin oben im Tempel von 1844. Und so erzählte ich von „Dame Bridget“, dem Besuch von Königin Camilla und der Einladung in den Buckingham Palace. April. April! – Ihr könnt Euch nun auf das nächste Jahr freuen, was mir da wieder Absurdes einfallen wird. Heute geht es um die anderen ernst-verrückten Dinge aus unserem letzten Treffen im „Secret Salon“.

Wir stellen uns gegenseitig zwei Bücher vor. Angela beginnt mit Florian Illies, Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929 – 1939, vor zwei Jahren im S. Fischer Verlag erschienen als faszinierende Sammlung von Lebensfragmenten der künstlerischen und poliltischen Eliten der damaligen Zeit. Im Plauderton entwickelt der Autor ein Kaleidoskope einer Zeit und ihrer Wahrheiten.

Angela hat die für sie wichtigen Stellen markiert, die wieder für mich wichtig sind und meine Lektüre. Da heißt es auf Seite 52:

„Die Frauen brauchen die Männer nicht mehr. Das ist die für die Männer verstörende Botschaft der späten zwanziger Jahre. Sie brauchen sie nicht mehr, um ihr Leben zu finanzieren – denn das machen sie inzwischen selbst, zumindest in Berlin und den anderen Großstädten, sie arbeiten in den Büros. (…) Sie brauchen die Männer auch nicht mehr, um von A nach B zu kommen, denn sie fahren ihre Autos selbst und posieren auf den Kühlerhauben und genießen den Fahrtwind besonders, wenn nur ein kleines Hündchen neben ihnen sitzt. Und die Frauen brauchen die Männer nicht mehr für Sex, denn Erfüllung finden sie auch bei ihren Freundinnen (oder sich selbst).

Anschließend blickt sie hoch und grinst. Wie sieht es bei mir aus, besser gesagt in dem Buch, das ich vorstelle: Else Lasker-Schüler, Mein Herz, 1912 erschienen. Es ist für mich eine wahre Entdeckung, ein expressionistisches Kunstwerk, ein literarisches Zeitdokument, das zugleich zeitlos ist. Der Schriftstellerin gelingt, wie keinem zuvor, der Übergang von der Erzählweise des 19. Jahrhunderts in die zertrümmerte, mosaikartige Moderne, selbstbewusst, schwärmerisch und hoffnungslos verliebt.

Auch ich habe meine Stellen markiert. Lese vor, ja könnte das ganze Buch am liebsten vorlesen. Es ist eine Briefsammlung an ihren (ex-)Mann Herwarth Walden, Schriftsteller und Herausgeber der Avantgarde-Zeitschrift „Der Sturm“ sowie dessen Freund Kurt Niemann, die auf einer gemeinsamen Reise durch Dänemark nach Schweden und Norwegen sind.

Spielerisch wechselt sie die Anrede(n), mal heißt es „Liebe Jungens“, „Liebe Polarforscher“, „Liebe Beide“ … – Ich fühle mich an meine Briefanfänge erinnert. „Euch kann nichts passieren“, schreibt sie gleich in der vierten Zeile. „Aber mir kann was passieren, ich hab Niemand, dem ich meine Abenteuer erzählen kann…“ – Sie braucht das Gegenüber, um sich selbst zu spiegeln.

Sie erzählt ihrem Noch-Ehemann von ihren Männerliebschaften. Nicht schlimm, Herwarth, fügt sie immer wieder ein, ist nicht viel passiert. Aus dem Verliebtsein, schöpft sie die Energie, sich zu leben, zu schreiben. Kafka hielt sie für eine überspannte Großstadt-Zicke, wie mir Angela aus Florian Illies Buch erzählt. Franz Marc liebte sie, war ihr Vertrauter und schenkte ihr die erste handbemalte Postkarte vom Blauen Reiter.

Immer wieder tauchen eigene Zeichnungen von ihr in dem Buch auf. Dann der Satz an Herwarth Walden, der bis heute für viele Paare gilt: „Ich kenn Dich und Du kennst mich, wir können uns nicht mehr überraschen, und ich kann nur leben von Wundern. Denk Dir ein Wunder aus, bitte!“

Es hat nicht geklappt mit dem Wunsch. 1912 mit Erscheinen ihres Buches sind die beiden geschieden. Sie verliebt sich in Gottfried Benn, und es entstehen die schönsten nächsten Liebesbriefe des 20. Jahrhunderts.

Ich lese kurze und längere Passagen vor, langsam, jedes Wort dieser Sprachkünstlerin will für sich wahrgenommen werden.

„Ich möchte ihnen etwas vom Himmel erzählen, den ich meiner Mutter widme. VOM HIMMEL. In sich muss man ihn suchen, er blüht am liebsten im Menschen. Und wer ihn gefunden hat, ganz zart noch ein blaues Verwundern, ein seliges Aufblicken, der sollte seine Blüte Himmel pflegen. Von ihr gehen Wunder aus; unzählige Wunder ergeben Jenseits. (…) Und irrig ist, den Himmelbegnadeten einen Träumer zu nennen, weil er durch Ewigkeit wandelt und dem Menschen entkam. (…) Wir wissen die Armen, denen nie ein Blau aufging am Ziel ihres Herzens oder am Weg ihres Traums in der Nacht. Oder die Enthimmelten, die Frühblauberaubten. Es kann der Himmel in ihnen kein Licht mehr zum Blühen finden …

Leben Sie wohl. (…) Tragen Sie den Saphier meiner blauen Abendstunden zum Andenken an Ihrer grübelnden Hand.“

Wir verharren ein wenig, still, und überlegen dann, wer von unseren Freund*innen dieses Buch von Else Lasker-Schüler lesen wird. Man muss es lesen wie ein Kind mit dem imaginären Tuschkasten neben und dem leeren unendlichen Blatt Papier vor sich.

Schön war die Zeit dort oben in der ersten Reformsynagoge von 1844, die nur noch eine Ruine ist. Ein wenig aus der Zeit gefallen.