Karen und ich treffen uns zum Lunch, diesmal nicht Montag, sondern Dienstag. Sie ist der Meinung, wir brauchen ein wenig Veränderung und Überraschung, passend zu unserem heutigen Thema: Die Innenseite des Genter Altars, eines der größten Kunstwerke der Menschheit.

Wir ziehen um, aus dem großen Raum, von dem vielleicht der Chor in das Mittelschiff des Tempels (1844) sang, in das angrenzende Zimmer mit Küche und freistehendem Klo. Unser Tisch steht gleich neben der Badewanne, unter uns der Teppich aus der Sammlung von Lila Valadan. Die Fenster hinter uns weit geöffnet.

Johanna, die neue Social Media Managerin, macht noch schnell ein Foto von uns beiden mit Seltenheitswert, denn bislang gab es entweder nur die eine oder die andere im Snapshot.

Anschließend schicken wir sie raus, und tauchen zu zweit wieder ein in die Welt des 15. Jahrhunderts mit Jan van Eyck und der Fortsetzung unserer Geschichte des Genter Altars. Diesmal sind die Flügel weit geöffnet und zeigen uns die schier überwältigende Bilderflut der Innenseite.

Bevor wir richtig anfangen, ist uns klar, wir könnten endlos weiter reden bei Quiche von Hej Papa, einem Schluck Wein, Wasser und Kerzen. Aber auch nach einem Jahr wären die Geschichten nicht erschöpft, die Rätsel um dieses Meisterwerk nicht gelöst …

Beginnen wir oben bei den drei großen Tafeln, der himmlischen Zone, die beinahe übermächtig das untere Bild zu erdrücken scheint. Eine erste Ungereimtheit? Lassen wir es offen. Links kniet Maria, rechts davon Johannes der Täufer. Alles spricht dafür, dass es sich um die “Deesis” handelt, die “Fürbitte”, in der Mitte stünde dann Jesus. Oder ist es hier Gottvater, und wir haben es mit der Dreifaltigkeit zu tun? Gott, Jesus und der Heilige Geist? Es ist hochkomplex. Vater oder Sohn tragen die Tiara auf dem Kopf, die weltliche Krone zu ihren Füßen.

Noch nie zuvor hat die Welt solch eine malerische Pracht erlebt. Und ich erinnere mich an mein eigenes Staunen im ersten Semester der Kunstgeschichte. Karen schmunzelt, den Ort für unser Mittagessen wohl gewählt zu haben, hängt doch über uns vielsagend der Chandelier von Magpie Art Collective.

Weiter geht es oben links und rechts zu meinen Lieblingstafeln, dem Chor der Engel, den himmlischen Musikanten. Erneut durchlebe ich die Begeisterung als junge Studentin, die mit diesen Bilder zum ersten Mal im Leben das wirkliche Sehen lernte.

Wie sie sich anstrengen, wie sie sich konzentrieren, voller Inbrunst singen sie in ihren glänzenden Gewändern mit funkelndem Schmuck und dabei kommen sie ganz ohne Flügel aus. Das Pult dreht sich aus dem Raum heraus, auch so eine Raffinesse, die es zuvor noch nicht gab.

Auf der rechten Seite sitzt ein Engel und spielt die Orgel, hinter der man durchschauen kann. Das muss man entdecken, um die neue Macht der Perspektive zu verstehen. Es fühlt sich an, als wäre alles real, als könne man die Musik hören.

Vielleicht begann hier meine Karriere als Mode-Designerin, mit der Betrachtung der prachtvollen Kleider und der Ornamente der Stoffe. Es bleibt keine Zeit, diesem Gedanken weiter nachzuhängen. “Schreib es auf”, so Karen und schon ist sie bei den äußeren Tafeln.

Links ist Adam, ich erinnere mich noch, dass ich ihn damals gar nicht so hübsch fand, jetzt bin ich anderer Meinung. Er sieht gut aus, der Arme, dem so übel mitgespielt wurde, wie Karen voller Mitgefühl erzählt. Eva hätte ihn in eine falsche Richtung gedrängt. Pech, kann ich nur sagen, aber immerhin ein Anfang, ohne den es, so die Bibel, uns alle nicht gäbe.

Faszinierend sein Fuß, der über das Bild hinauszuragen scheint. Wir können ihn sogar von unten sehen. Van Eyck bringt seine ganze geniale Meisterschaft auf, um dem Betrachter zu suggerieren, es würde sich um einen echten Menschen handeln, der dort steht, im Spiel von Licht und Schatten.

Darüber sind Kain und Abel abgebildet, die Kinder, die missratenen, links sind sie noch lieb miteinander, rechts erschlägt Kain dann seinen Bruder mit dem Kieferknochen eines Esels, hatte wohl gerade nichts anderes zur Hand. Kein Krimi kann aufregender sein, wenn man sich auf dieses Bildprogramm einlässt.

Schon geht es eine Etage tiefer zur großen Haupttafel, auf der sich das erste Mal überhaupt in der Kunst eine Landschaft bis weit in die Tiefe hinein erstreckt. Dieses Bild hat sich mir so fest in der Erinnerung eingegraben, dass es in jeder Naturdarstellung mitschwingt, die ich auf meinen Stoffen zeige.

Dargestellt ist das Paradies. Die zeitgenössische Architektur im Hintergrund symbolisiert das Himmlische Jerusalem. Der Brunnen im Vordergrund verkündet die Rückkehr des Herrn (acht Ecken, eine magische Zahl). Oben sprudelt das Wasser heraus, unten läuft es uns, den Betrachtern, entgegen. Ist das nicht aufregend, all diese Kleinigkeiten, hinter denen sich ein großes Ganzes verbirgt mit eine Verbindung von Himmel und Erde, von Diesseits und Jenseits, von Bild und Realität.

Auf dem Brunnen steht die Figur des Erzengels Michael, der die Waage hält. Gewogen und für … “das war’s dann”, so lapidar meine Lunch-Partnerin, und schon ist sie weiter hinauf die Mittelachse des Gemäldes: Der Altar mit dem Lamm, dem Blut Christi und darüber die Taube, Symbol für den Heiligen Geist.

Die letzte Restaurierung für die große Ausstellung im vergangenen Jahr hat ergeben, dass das Lamm ein menschliches Gesicht besitzt. Erneut versucht van Eyck in der naturalistischen Wiedergabe gleichzeitig das Übersinnliche zu suchen. Das ist das Wunder der Kunst, das er so einmalig und erstmalig erschafft.

Die ganze Vielschichtigkeit wird mit jedem weiteren Detail sichtbar. Manchmal müssen wir einfach kurz innehalten, ein Blick aus dem Fenster, ein Bissen vom Kuchen, ein paar eigene Gedanken insgeheim weiterspinnen …

Abb: Kleiner Krug Paul Dresler, 1920er Jahre (€ 220). Service Frankreich, Maison F, Poolstrasse 28.

Jede einzelne Pflanze in dem Bild lässt sich zuordnen, für das Muster des Fussbodens gibt es Vorlagen, die Figuren und den Faltenwurf studierte Van Eyck an den lebenden Modellen, aber wie sieht Christus aus? Und damit noch einmal zurück zu Jesus und Gottvater in der oberen Tafel als Deesis und als Dreifaltigkeit. Van Eyck hat das Gesicht von einer Ikone abgemalt, denn diese waren keine Bilder im herkömmlichen Sinne, sondern Einflüsterungen des Göttlichen an den Künstler.

Nun zu den Mengen von Menschen und Heiligen, die sich überall gruppieren. Auch das hat es zuvor noch nie gegeben. Vorne rechts die Jünger, zottelig mit schmuddeligen Füßen. Sie sind die Verkünder der Wortes Christi, die Verbindung zum Himmlischen. Sie brauchen keinen Reichtum wie die kirchlichen Würdenträger hinter ihnen im teuren Ornat.

Links die Propheten, immer an ihren Bärten zu erkennen, zwischen ihnen in weiß mit dem Lorbeerzweig: Dante! Wieder versucht Van Eyck die Brücke zum Jetztzeitlichen zu schlagen.

Oben kommen von rechts die heiligen Jungfrauen mit ihren Märtyrer-Attributen und auf der anderen Seite von weither die Kirchenväter, die die Botschaft der Jünger und Propheten weitertragen. Auf den unteren äußeren Seitentafeln zum Schluss die eleganten Streiter Christi, die Kreuzritter. Die Landschaft setzt sich hinter ihnen fort. Und nun noch rechts der übergroße Christophorus im roten Mantel, der Beschützer der Reisenden, zusammen mit den Pilgern.

Ganz schön viel los! Die Frage ist, warum sie alle gekommen sind! In diesem Punkt sind sich die Interpreten des Genter Altars weltweit einig: Er wurde gefertigt für das Allerheiligenfest. Und so heißt es in der Offenbarung des Johannes, dass sich eine große Menschenmenge zusammenfand, die keiner mehr zählen konnte. Sie sollen niemals mehr Hunger und Durst leiden (der Brunnen, das Lamm, die Fürbitte).

Dreimal im Jahr wurden die großen Flügel des Altars geöffnet, um diese ganze Szenerie zu bestaunen: Weihnachten, Ostern und zu Allerheiligen. Karen und ich versprechen uns, dass wir gemeinsam nach Gent reisen, wenn das Reisen wieder möglich ist. Sie endet diesen atemberaubenden Diskurs mit den Worten von David Hockney: “I enjoy looking!”

Und ich erzähle ihr noch geschwind, dass mein Doktorvater mich irgendwann, als ich dachte, ich würde durch alle Raster eines erfolgsversprechenden Lebens durchfallen, mit den Worten tröstete: “Machen Sie sich keine Sorgen, Sie haben doch sehen gelernt.” Am Anfang stand der Genter Altar.