Endlich schaffen wir es, uns für meinen „Secret Salon“ oben im Tempel von 1844 zu verabreden: Angela, die die Briefe ihrer Urgroßmutter entdeckte und darüber ein Buch schreibt, ich, die ich mich gern als „Briefschreiberin“ definiere. Unser Thema: Bruce Chatwin. Der Nomade, ein Kompendium seiner Briefe von der Kindheit bis kurz vor seinem Tod, herausgegeben und kommentiert von seiner Frau Elisabeth Chatwin sowie dem Freund und Journalisten Nicholas Shakespeare.

Ich bin müde, zwei Nächte hintereinander wenig Schlaf, brauche einen kleinen Kick, um mich aus der trüben Realität zu holen. Deswegen schlage ich vor, dass wir es uns in der alten Badewanne gemütlich machen mit Blick auf die Apsis-Ruine, Kerzen und einen Kaffee dazu.

Über Bruce Chatwin ließe sich so viel erzählen, den ewig Rastlosen, den Nomaden aus bürgerlichen Verhältnissen, der bei Sotheby’s in London sein erstes Rüstzeug der Beschreibung lernte. Es folgten das Studium der Archäologie, seine Zeit bei der Sunday Times und dann endlich sein erstes Buch „In Patagonien“ (1977), mit dem er zu seinem eigenen Schreibstil fand.

Die Manuskripte und Notizen sowie alle anderen Vorarbeiten warf er weg, sowie das Buch fertig gedruckt war. Wir sind entsetzt, heben alles sorgfältig auf. Es gibt von mir reihenweise Skizzenbücher mit meinen Gedanken, gekritzelt, umkreist, mit Ausrufezeichen versehen. Und auch Angela hütet ihre Recherche-Schätze. Chatwins Briefe sind somit die einzigen unbearbeiteten Dokumente, die Zeugnis seiner inneren und äußeren Wanderungen, Liebe, Einsamkeit und endlosen Suche nach dem Wesen von uns Menschen ablegen.

Hans Magnus Enzensberger schrieb über ihn: „Gewiss aber wird man sich an Chatwin als einen Geschichtenerzähler erinnern (und als solcher wird er auch vermisst), einen Geschichtenerzähler, der weit über die Grenzen der Fiktion hinausgeht und in seinen Erzählungen Elemente der Reportage, der Autobiographie, der Ethnologie, der kontinentalen Tradition des Essays, ja sogar des Klatsches mit einbezieht.“

Die Briefe sind dafür der „Rohstoff der Gedanken“, wie es bei ihm heißt, „ein Mittel, sie auf dem Papier zu testen, eine erste Version.“ Seine Sätze sind kurz und präzise, manchmal Telegramm-artig, ein Medium, das er besonders liebte: BIN WEG NACH PATAGONIEN FÜR VIER MONATE. Es gibt viele Situationen, in denen wir auch gern so etwas schreiben würden. Viel knapper geht „escape“ wohl nicht.

Verschwenderisch ging Chatwin mit Wahrheiten um, er tauschte das eine oder andere Faktische aus, vernachlässigt vordergründige Kontexte. Er ist auf der Suche nach den tieferen Zusammenhängen, sonst würde er sich nicht unablässig quälen, wie sich in seinen Briefen zeigt. Wird das Material, das er gefunden hat, sich zu einem großen Bild zusammenzufügen? 17 Jahre brauchte er, bis in „Traumpfade“ sinnbildlich verschmolz, was das Thema seines Lebens war. Da hatte er sich schon mit dem HIV-Virus infiziert.

Mit dreißig Jahren nahm sich Chatwin die Sätze seines Lehrers zu Herzen: „Jeder Mensch, der sich jemals etwas abverlangt, trägt ein Buch in sich … Allerdings mag es ein besseres Buch werden, wenn er damit wartet, es einem Verleger zu überbegeben, bis er sechzig geworden ist.“ – Soviel Zeit hatte er nicht, er starb 1989 mit nur 49 Jahren. Für mich ist er einer der ganz Großen des 20. Jahrhunderts.