Wann haben wir das letzte Mal etwas gelesen, das so anspruchsvoll war, dass wir es nicht verstanden haben. Ich meine nicht diese Texte und Bücher, die vor den Augen verschwimmen, wenn wir todmüde im Bett liegen. Es geht mir um die Lyrik und Prosa, die sich unserem schnelle Überfliegen verweigert und eine Irritation oder ein Sich-Wundern hinterlässt.
Bei mir ist so etwas schon eine Weile her. Ich bin ein ungeduldiger Mensch. Was sich dem schnellen Zugang entzieht, wird erst einmal zur Seite gelegt. Aber (!), zu mir gehört auch die Neugierde und der Ehrgeiz. Und dann begegnet mir etwas wieder, weil jemand davon erzählt, und ich begebe mich auf die Fährte. Erzählungen wie Bilder wollen auch gefunden werden.
So war es kürzlich meine Tochter Toska, die über Novalis(1772 –1801), den Dichter und Philosophen der Frühromantik, sprach. Sie erzählte von dem Romanfragment „Die Lehrlinge zu Sais“, in dem der Lehrer ausging und die Natur beobachtete. Er kam zurück mit einem Stein … Und das hätte sie so sehr an die Fotographien ihres Vaters erinnert, die „Steine“ von Krzysztof Graf Tyszkiewicz, die nun bei uns im Kapitänshaus ausgestellt sind.
„Thanks God, it’s Friday“, und wir haben Zeit, nutzen wir sie für diesen Text, den ich schon dreimal gelesen habe und nicht wage in einer Zusammenfassung wiederzugeben. Ich könnte einen Fehler machen. Aber noch vielmehr hätte ich Sorge, mit meinen Worten die Phantasie zu limitieren. Also, lese ich ein viertes und sicherlich auch noch ein fünftes, sechstes Mal. Euch wünsche ich ebenso eine langsame Lektüre, Wort für Wort, Satz für Satz, mit immer wieder sich verändernden Bildern.
Abb: Steinbild Krzystztof Tyszkiewicz, Drachen-Objekt Klaus Dupont, Cashmere Stola grün (€ 398), Kurze Hose, Blumenwiese (€ 398)
Novalis, Die Lehrlinge zu Sais (1798 – 1799)
Von unserm Lehrer sprach gewiß die Stimme (…) Den Sternen sah er zu und ahmte ihre Züge, ihre Stellungen im Sande nach. Ins Luftmeer sah er ohne Rast, und ward nicht müde seine Klarheit, seine Bewegungen, seine Wolken, seine Lichter zu betrachten. Er sammelte sich Steine, Blumen, Käfer aller Art, und legte sie auf mannigfache Weise sich in Reihen. Auf Menschen und auf Tiere gab er acht, am Strand des Meeres saß er, suchte Muscheln. Auf sein Gemüt und seine Gedanken lauschte er sorgsam. Er wußte nicht, wohin ihn seine Sehnsucht trieb. Wie er größer ward, strich er umher, besah sich andre Länder, andre Meere, neue Lüfte, fremde Sterne, unbekannte Pflanzen, Tiere, Menschen, stieg in Höhlen, sah wie in Bänken und in bunten Schichten der Erde Bau vollführt war, und drückte Ton in sonderbare Felsenbilder. Nun fand er überall Bekanntes wieder, nur wunderlich gemischt, gepaart, und also ordneten sich selbst in ihm oft seltsame Dinge. Er merkte bald auf die Verbindungen in allem, auf Begegnungen, Zusammentreffungen. Nun sah er bald nichts mehr allein. – In große bunte Bilder drängten sich die Wahrnehmungen seiner Sinne: er hörte, sah, tastete und dachte zugleich. Er freute sich, Fremdlinge zusammenzubringen. Bald waren ihm die Sterne Menschen, bald die Menschen Sterne, die Steine Tiere, die Wolken Pflanzen, er spielte mit den Kräften und Erscheinungen, er wußte wo und wie er dies und jenes finden, und erscheinen lassen konnte, und griff so selbst in den Saiten nach Tönen und Gängen umher.
Was nun seitdem aus ihm geworden ist, tut er nicht kund. Er sagt uns, daß wir selbst, von ihm und eigner Lust geführt, entdecken würden, was mit ihm vorgegangen sei. Mehrere von uns sind von ihm gewichen. Sie kehrten zu ihren Eltern zurück und lernten ein Gewerbe treiben. Einige sind von ihm ausgesendet worden, wir wissen nicht wohin; er suchte sie aus. Von ihnen waren einige nur kurze Zeit erst da, die andern länger. Eins war ein Kind noch, es war kaum da, so wollte er ihm den Unterricht übergeben. Es hatte große dunkle Augen mit himmelblauem Grunde, wie Lilien glänzte seine Haut, und seine Locken wie lichte Wölkchen, wenn der Abend kommt. Die Stimme drang uns allen durch das Herz, wir hätten gern ihm unsere Blumen, Steine, Federn alles gern geschenkt. Es lächelte unendlich ernst, und uns ward seltsam wohl mit ihm zumute. »Einst wird es wiederkommen«, sagte der Lehrer, »und unter uns wohnen, dann hören die Lehrstunden auf.« – Einen schickte er mit ihm fort, der hat uns oft gedauert. Immer traurig sah er aus, lange Jahre war er hier, ihm glückte nichts, er fand nicht leicht, wenn wir Kristalle suchten oder Blumen. In die Ferne sah er schlecht, bunte Reihen gut zu legen wußte er nicht. Er zerbrach alles so leicht. Doch hatte keiner einen solchen Trieb und solche Lust am Sehn und Hören. Seit einer Zeit, – vorher eh jenes Kind in unsern Kreis trat, – ward er auf einmal heiter und geschickt. Eines Tages war er traurig ausgegangen, er kam nicht wieder und die Nacht brach ein. Wir waren seinetwegen sehr in Sorgen; auf einmal, wie des Morgens Dämmerung kam, hörten wir in einem nahen Haine seine Stimme. Er sang ein hohes, frohes Lied; wir wunderten uns alle; der Lehrer sah mit einem Blick nach Morgen, wie ich ihn wohl nie wieder sehen werde. In unsre Mitte trat er bald, und brachte, mit unaussprechlicher Seligkeit im Antlitz, ein unscheinbares Steinchen von seltsamer Gestalt. Der Lehrer nahm es in die Hand, und küßte ihn lange, dann sah er uns mit nassen Augen an und legte dieses Steinchen auf einen leeren Platz, der mitten unter andern Steinen lag, gerade wo wie Strahlen viele Reihen sich berührten.
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