Heute früh habe ich in meine Blogbeiträge geschaut, drei Muttertagsbriefe gab es in der Vergangenheit, zwei an meine Töchter (2023), einen an meine Mutter, der Eingang in unser Childhood Buch fand (2024). Gestern Abend wanderte ich über die Felder hoch über dem Watt. Welch einen Weg habe ich in den vergangenen Monaten zurückgelegt und mit mir die Freundin an der Seite. Wir haben uns die Mütter wieder zueigen gemacht, uns in eine versöhnliche Tradition mit ihnen gestellt. Es berührt mich, welche Kraft dahinter steckt, und wie gegenwärtig plötzlich längst verschüttet geglaubte Bilder sind.

Childhood Buch und Muttertagsbrief von 2024

Eine Nacht liegt zwischen dem Spaziergang und jetzt. Vor mir liegt der cremeweiße Briefbogen mit dem Wappen der Tyszkiewicz. Ich weiß nicht was schreiben, aber das ist oft so, ein leerer Raum, in dem die Gedanken formlos wabern. Nach einer Weile nehme ich den Füller in die Hand und es fließt aus der Feder, wie diktiert von fern.

Es geht mir um all die Mütter der Vergangenheit, die lange Reihe unserer weiblichen Ahnen, um die Mütter heute und um jene von morgen. Die Geschichte der Frauen ist auch die Geschichte der Mütter. Ich denke an unsere Verantwortung für das Leben, das wir „mütterlich“ nennen dürfen. Wie wir es bewahren oder gar dafür kämpfen müssen, egal ob wir eigene Kinder haben oder uns anderer annehmen.

Ich kenne viele, die gerade ihr erstes oder ihr zweites Kind bekommen haben. In welche Zeiten sind diese kleine Wesen hineingeboren, wie werden sie aufwachsen? Wie sieht die Welt aus, wenn sie so alt sind wie ich jetzt? In dreißig Jahren, in vierzig oder gar sechzig Jahren.

Das Blatt hat sich mittlerweile gefüllt, typisch für mich gehen die Wörter über die Ränder hinaus. Zwischendurch streiche ein wenig meinen Rock glatt, posiere für ein Foto, das bestickte Tuch aus der Ukraine um die Schulter gelegt. Wir werden mehr und mehr gedrängt, politisch zu denken, wo wir es am liebsten nur einfach schön haben möchten. Die Parallelitäten belasten uns, mehr als wir wahrhaben wollen.

Mir fällt der Philosophen Bruno Latour (1947 – 2022) ein, der kurz vor seinem Tod einen Brief an sein Enkelkind Lilo schrieb mit einer Zukunftsprognose, die wie ein Vermächtnis klingt. Ich möchte ihn in seiner ganzen Länge zitieren, denn besser könnte ich es nicht formulieren:

Bruno Latour, Brief an sein Enkelkind (2021)

»Was wird in 40 Jahren sein? Ich bin kein Hellseher. Deine ersten 20 Jahre werden hart sein. Du solltest Dich gut darauf vorbereiten. Du könntest vielleicht Geochemie oder Ökologie studieren. Denn wir reagieren unglaublich langsam auf die aktuelle Situation. Daran sind die vorherigen Generationen schuld, vor allem meine Generation. Wir reagieren sehr langsam auf die veränderten Lebensbedingungen. Es geht heute nicht mehr um Produktion, sondern um die Bewohnbarkeit der Erde. Und da wir so langsam sind, wird die Umstellung Zeit brauchen. Deine Generation wird bezahlen müssen für die Untätigkeit der vorherigen Generationen. Das heißt, sie wird leiden müssen unter den von den Naturwissenschaften angekündigten Katastrophen.

Achte darauf, dass Du ausgestattet bist mit allen notwendigen therapeutischen Mitteln, um die Ökoangst 20 Jahre lang aushalten zu können. Meine Generation muss ihre Kinder und Enkelkinder mit den richtigen therapeutischen Mitteln ausstatten, damit Ihr nicht in die Verzweiflung stürzt.

Doch in 40 Jahren wird es wohl wieder besser sein. Ich denke, das kann man an der Abfolge der Generationen erkennen […]. In den darauffolgenden 20 Jahren werden die Menschen wohl erkannt haben, wo sie leben. Sie werden endlich gelandet sein. Die große Anzahl an Veränderungen und Katastrophen der 20 vorausgegangenen Jahre und der heutigen Zeit, werden endlich verarbeitet werden können. Es wird die passenden politischen Institutionen geben, die juristischen Definitionen, die passenden Künste, Wissenschaften und wohl auch veränderte wirtschaftliche Bedingungen, die es ermöglichen, mit der Situation klarzukommen.

Weder Dein Großvater noch der Philosoph ist dazu da, das Ende der Welt anzukündigen. 20 Jahre lang wird es hart sein, doch die nächsten 20 Jahre wird es wieder besser werden. Wenn ich Dich also in 40 Jahren wieder treffen würde, gehe ich davon aus, dass der Prozess der Zivilisation, der heute ausgesetzt ist, wieder in Bewegung sein wird. Und man wird in der Geschichte zurückblicken auf diese Zeit der Unkenntnis und der Verweigerung gegenüber der ökologischen Lage, in die wir uns gebracht haben. Auf die Zeit, die ich die Parenthese der Moderne nenne. Und man wird es merkwürdig finden, etwa so, wie die römischen Papisten des 13. Jahrhunderts. Man wird es als etwas Eigenartiges wahrnehmen. Das war zur damaligen Zeit zwar wichtig und es hat Großes hervorgebracht, doch jetzt ist es vorbei.

Das wäre das Beste, was ich Dir wünsche.«

Ich pflichte ihm bei, unsere Aufgabe ist es, den Jüngeren das Rüstzeug zu liefern, dass sie sich entfalten und behaupten können trotz der Gefahren, die auf sie zukommen. In meinem Fall wollte ich Offenheit, Neugierde und Unerschrockenheit weitergeben. Aber vor allem die Grundhaltung, dass das Leben ein Geschenk ist!

Heute gibt es für die erste Online Bestellung das Tuch mit den Stickereien aus der Ukraine als Präsent für diesen Tag, der symbolisch ist für alle Tage.