Heute ist Muttertag, und ich schreibe meinen offenen Brief No.2 an meine beiden Töchter Roma (28) und Toska (25). Beide sind seit vielen Jahren aus dem Haus, studierten und studieren in Berlin, Toulouse und in Paris. Roma lebt seit mehr als einem Jahr auf der Île de la Réunion, über 9.000 Kilometer von unserem Garten auf Sylt entfernt. Gestern Abend habe ich im letzten Sonnenlicht begonnen …

Ich trage den Pyjama für die Nacht, die Vintage Yves Saint Laurent Bluse vom Tag und den neuen Blazer dazu, meine Brille auf der Nase, sonst kann ich nichts sehen. Idyllisch ist es so unter dem großen Kirschbaum mit dem alten Bistrotisch dadrunter.

Liebe Roma, liebe Toska, Ihr seid nun schon eine Weile erwachsen, lebt in Frankreich Eurer Leben, wollt auch nicht zurück nach Deutschland. Wir telefonieren regelmäßig, sind innig verbunden, es sei denn ich nerve aus der Ferne. „Ist was Wichtiges“, werde ich ab-und-an von Euch ein wenig unwirsch abgewimmelt. „Nein, nichts Wichtiges, nur so“, antworte ich und lege auf.

Ich habe aufgepasst, dass Ihr nicht beschädigt wurdet in Eurem Wesen, dass Ihr Euch frei entwickeln konntet, in einer immer komplizierter werdenden Welt. Habe dafür gesorgt, dass die Erwachsenen Euch nicht die Fantasie rauben, mit der Ihr die Realität begreift. Wie oft habe ich bei den Lehrern gesessen, um Eurer Wesen zu erklären, haben wir als Eltern protestiert, wenn Ihr sitzenbleiben solltet.

Ich habe Euch ermutigt, aufzubegehren, wenn Euch etwas widerstrebt. Das war und ist zusammengefasst meine wesentliche Aufgabe als Mutter, nicht viel mehr. Und ich habe sie genossen und genieße sie – jeden Tag.

Daraus ist ein Wechselspiel geworden. Roma hat mir Hannah Arendt erklärt und ihren Begriff von dem Bösen. Wir sind am Strand entlanggegangen und haben über den Unterschied zwischen „Geben und Opfern“ von Epikur gesprochen.

Toska zeigt mir ihr Paris und ermahnt mich zu mehr Geduld und Nachsicht. Ich höre zu und lerne, auch das gehört für mich zu der modernen Auffassung von Muttersein. Wir haben das Wissen nicht für uns gepachtet, unser Vorsprung an Jahren macht uns nicht zu den Klügeren.

Heute morgen schreibe ich weiter im Pyjama mit dem Blazer dadrüber, nutze das Blatt Papier von gestern, um zusätzliche Gedanken dazwischen zu drängen, kreuz und quer und in Schlangenlinien. Höre schon die Beiden stöhnen, dass man nichts mehr lesen könne. Dann müssen sie sich eben Zeit nehmen, für mich, meine Schrift, was mich umtreibt, wer ich bin und wer ich sein möchte. Frauen in meinem Alter erobern sich ihr Leben neu.

Dafür muss man sich nicht schämen oder entschuldigen. Im Gegenteil, es ist wichtig, um für die Jüngeren ein Vorbild zu sein. Das Leben endet nicht, wenn die Kinder aus dem Haus sind, es setzt sich fort, wird anders, wird herausfordernd. Sie suchen und ich suche nach einer Sinnhaftigkeit, wir tauschen uns darüber aus und das fasziniert mich.

Meine Mutter hat es nicht gekonnt, nicht einmal versucht, genauso wie mein Großmutter. Sie haben mir nicht zugehört. Wie manch andere meiner Generation durchbreche ich damit das Muster, das uns limitiert und einschwört auf nur eine Rolle. – Und so erfüllt sich in gewisser Weise mein Teenager-Wunsch, dass zusammengeht, was ich mir erträumte.

Keramik Tasse und Untertasse. Margarete Weiss für Carstens Uffrecht, € 180.

In diesem Sinne wünsche ich Euch einen schönen Muttertag. Von mir gibt es ein kleines Geschenk, wer heute bestellt …