Nicht alle von uns sind Mütter, aber wir alle haben oder hatten eine Mutter. Es ist der Mensch der ersten Minute, mit dem wir uns ein Leben lang auseinandersetzen (müssen). Meine Mutter wurde in den Krieg hineingeboren, Jahrgang 1940. Kurz überfliege ich die historischen Daten des Jahres, ein Grauen folgt dem nächsten. Das KZ Auschwitz wird eingerichtet, erste Gefangenentransporte, Blitzkrieg, Deutschland nimmt die Niederlande, Belgien und Luxemburg ein, Paris wird besetzt … Noch finden keine Kampfhandlungen auf deutschem Boden statt, aber Krieg herrscht rundherum auf der ganzen Welt.

Der Großvater im Krieg, die Großmutter später mit der kleinen Tochter im Luftschutzbunker. Beide Frauen waren ihr Leben lang von Angst bestimmt. Childhood. Meine Kollektion hat indirekt damit etwas zu tun, jedoch verbunden mit dem Gefühl, stärker zu sein, Verbündete zu haben. Dafür brauchen wir Märchen und Märchenhaftes, die Drachen und Monster, die wir besiegen und bändigen.

Meine Mutter besaß nur die frühe Erinnerung an Sirenen und Bombeneinschläge. Von Büchern, Geschichten und Märchen hat sie nie erzählt. Sie las mir vor, als würde sie sich selbst vorlesen: Rotkäppchen und der Wolf, Schneewittchen, Hänsel und Gretel.

Damals habe ich zugehört und bin abgetaucht in meine noch reicheren Fantasielandschaften. Aber das habe ich nicht verraten, und die Mutter hat nicht gewusst, dass man Kindern zuhören sollte, denn die haben viel mehr zu berichten, als die Erwachsenen sich vorstellen können.

Heute ist Muttertag, und ich nehme meine Mutter an die Hand. Sie starb vor vielen Jahren im Mai als ein doppelter Regenbogen über dem Haus leuchtete. Gemeinsam wandern wir durch den Wald mit all den Blumen des Frühlings.

Sie braucht keine Angst mehr vor dem Dunkel zu haben, ich bin ja da, halte sie fest und führe sie durch mein Kinderreich. Überall flüstern meine heimlichen Freunde, die Bäume und Pilze, Käfer und Schmetterlinge. Der Wind weht uns durch das Haar und die würzige Luft streichelt über die Haut. „Versuch doch zu lauschen“, möchte ich ihr zurufen. Sie hatte nie die innere Ruhe dazu.

Ich erzähle ihr von den Wesen, die uns leiten und beschützen. Und dann ruhen wir uns aus auf der Lichtung und ich flechte ihr einen Blumenkranz, so wie in dem Park vor dem Krankenhaus, in dem sie ein paar Wochen bleiben musste, damals, als ich noch ganz klein war.

Die Sonne schien, und ich erinnere, es war eines der wenigen Male, an dem ich ihr von meiner Welt erzählte, während ich den Stängel des Gänseblümchens durch den nächsten steckte, bis ein Band daraus entstand. Childhood. Wir konnten so herrlich miteinander lachen.

Die Bluse mit den weißen Markierungen und den zwei verschiedenen Mustern, die Melle aus den Andrucken im Atelier nähte, damit wir wenigstens ein Prototyp hatten, gibt es heute als Unikat zu kaufen. Sie hat mich an so viele Orte begleitet.

Nun kann ich mich von ihr trennen. Sie hat auch etwas mit Muttertag zu tun, dem Erzählen und Zuhören von dem Wundersamen einer Welt hinter der Welt.