Seit heute früh habe ich geschrieben, telefoniert, ein paar wichtige Emails verfasst, gearbeitet, nur unterbrochen durch ein Bad im Meer und ein Frühstück mit Rührei. Das Leben steht ja nicht still, nur weil wir im Halb-, Ganz- oder Übergangslockdown sind. Nein, keineswegs, ich habe viel zu tun, super viel zu tun … Die Liste der Dinge, die erledig werden wollen, ist lang, das Leben ist kurz.

Dennoch (Lieblingswort meiner Tochter Toska), sitze ich bestimmt schon zehn Minuten regungslos am Tisch und starre nach draußen, folge dem Wechsel von Sonne und Wolken, wie der Wind an den Bäumen zerrt. Was gibt es zu berichten?

Monique näht Schals, Blazer, Blusen. Ich erinnere mich an die Farbe ihres roten Pullovers gestern im Licht der Lampe, vor ihr das Ruwenzori-Muster. Was für ein schönes optimistisch flirrendes Rot, es ist mir im Gedächtnis geblieben. Im Erzgebirge ist man fleißig mit neuen Modellen beschäftigt.

Was habe ich nur für eine merkwürdige Menagerie auf meiner Fensterbank, meine täglichen Begleiter in den Tag und durch ihn hindurch. Die Miniaturen von Klaus Dupont, eine kleines Püppchen handbemalt aus der Schweiz, das Outfit noch von mir genäht, eine Auster mit einer Perle.

Daneben ein Medusen Briefbeschwerer, dient nun als Buchstütze, und dahinter Seneca, Greta Thunberg, Rembrandts Zeichnungen, meine Agenda 2020 (steht nicht viel drin und doch so viel), die Doughnut Economics, das Kulturprogramm vom Sölring Foriining …

„Die meisten Menschen, mein lieber Paulinus“, so beginnt Seneca seinen Brief an den Freund, „beklagen sich über die Missgunst der Natur: Nur für eine kurze Zeit werden wir geboren, und diese uns zugestandene Frist läuft so rasch, ja rasend schnell ab, dass das Leben die Menschen, mit nur wenigen Ausnahmen, verlässt, während sie sich gerade im Leben einrichten.“

Nächste Woche richte ich mich erneut in meinem Leben ein, ich weiß nicht, das wievielte Mal es ist, wieder ein Abschnitt: Poolstrasse 30. Ob es wie eine Puppenstube wird mit zwei großen Schaufenstern? Dazwischen liegen meine Fahrten mit dem Zug über den Damm, über den Nord-Ostsee-Kanal, einmal links und zurück einmal rechts.

Wieder hängt mein Blick versonnen an dem Grün vor dem Fenster und dem Weiß vom Tisch, der noch vor einem Jahr in der MILCHSTRASSE 11 stand, als diese schon fast ausgeräumt war. Montag kommen die anderen Teile aus dem Lager, das lange türkisfarbene Sofa, die Bücherkisten, mein vermisster Schreibtisch von Jasper Morrison.

Ich blättere die Seite in dem kleinen Büchlein um. Seneca, Kapitel 2: „Wozu beklagen wir uns über die Natur? Sie hat sich doch gütig gezeigt: Das Leben ist lang, wenn du es zu nutzen verstehst. Doch den einen hält unersättliche Habgier gefangen, den anderen seine geschäftige Betriebsamkeit mit völlig überflüssiger Plackerei …“

Heute morgen erhielt ich eine sms: „Immer nur Volldampf. 😃🤨.“ Am liebsten hätte ich sofort geantwortet: NEIN! Schwierig das eigene Leben zu beschreiben. Ich blättere ein wenig ziellos durch das Heftchen, vielleicht finde ich ja eine bessere Antwort. Dass hier könnte es sein: Zu seinem eigenen Denken, das Denken der anderen in all den Jahrhunderten davor addieren. Dann wird das Leben reich und voll, bremst sich aus so wie in diesem Augenblick am Fenster und verwehrt sich Begriffen wie „Volldampf“. Ich bleib noch ein wenig sitzen, es passiert gerade nichts oder doch ganz viel.