Das Schrecken braucht ein Gesicht, um es verständlich zu machen. Anne Frank gab dem Holocaust solch ein Gesicht, Sophie Scholl dem Widerstand gegen Hitler, und der Soldat, der über den Stacheldraht-Zaun sprang, wurde zum Symbol für die Freiheit im Kalten Krieg. Wir werden täglich gefüttert mit Zahlen aus dem Krieg. 2.500 ukrainische Kämpfer, 400 ausländische Söldner, 1.000 Zivilisten, die sich in einem Stahlwerk in Mariupol in der Ostukraine verschanzt haben. Es macht sprachlos und stülpt unserem Alltag im frühlingshaften Westen einen düsteren Schatten über. Aber ich habe dank eines eindringlichen Films aus dem Jahre 2016 die Gesichter dahinter im Kopf: Mariupolis.
Der Regisseur Mantas Kvedaravicius, 1976 in Litauen geboren und am 2. April 2022 getötet, war Anthropologe und Archäologe. Mit seinem Film, 2016 auf der Berlinale gezeigt, nähert er sich im Close up dem Leben der Einwohner von Mariupol.
Dem Film vorangegangen war 2014 die Annexion der Krim durch die Russen. Mariupol liegt nun inmitten der von russischen Separatisten kontrollierten Gebiete. Ich persönlich erinnere mich vor allem an meine Moskauer Kunden, die die damalige Kollektion „Journey to the Moon“ stornierten. Daraus entstand Roma e Toska Women und der erste Flagship Store 2015 auf Sylt, Hamburg 2016. Soweit der persönliche Einschub, der mit der ersten Ukraine-Krise indirekt zusammenhing.
Man braucht ein wenig Zeit, um sich an den Film mit seiner extremen Nahsicht zu gewöhnen, aber dann lässt er einen nicht mehr los. Es ist anrührend, diesen Versatzstücken aus dem kleinen Glück zu folgen.
Die Mädchen, wie sie tanzen, die Tochter, die mit ihrem Vater angelt, der Mann, der den Tiger-Teddy hochhält, man sieht nur seinen nackten Oberarm, sehnig von der harten Arbeit, sein Husten zeugt vom Kettenrauchen. Der Zuschauer wird zum intimen Zeugen, der die Bilder auf seine Bestandteile befragt.
Im Park spielen zwei Männer Schach, während Soldaten vorbeilaufen. Alle Menschen haben Gesichter, die uns vertraut sind, sie lachen oder blicken besorgt, genauso wie wir es auch tun. Was ist Normalität? Vor sieben Jahren und heute?
Was macht die Lokführerin der Straßenbahn, konnte sie fliehen? Lebt sie noch? Und die junge Braut, die so beschämt lächelt, als sie dem Liebeslied ihres zukünftigen Ehemannes lauscht?
Und der kleine hässliche Zoo, der schon 2016 ein klägliches Bild abgab mit den abgemagerten Löwen und dem Bären, der an der Metallstange knabbert? Was ist aus ihm geworden? Irren die Tiere nun durch die zerbombten Straßen, genauso wie die verbliebenen Menschen, für die man keine Fluchtkorridore einrichten will?
Das kleine Glück ist der Anker unserer Gesellschaft, wer es zerstört, vergeht sich sie an der Unschuld des Lebens. Vielleicht habt Ihr Lust und Zeit, den ganzen Film anzuschauen, um so dieser Stadt, die seit dem 1. März 2022 belagert wird, ihre Gesichter zurückzugeben.
Mariupolis, 2016, Dokumentarfilm. Regie Mantas Kvedaravicius. Gemeinschaftsproduktion Ukraine, Litauen, Deutschland, Frankreich.
Wir spenden von jedem Roma e Toska Einkauf € 50,00 an die Nothilfe Ukraine.
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