„Mein Geheimrat Lagerfeld“, nannte Marietta Andreae ihr soeben erschienes Buch über Karl Lagerfeld. Seit 1983 arbeitete die Hamburgerin mit ihm zusammen, sie war gerade PR-Direktorin bei Chanel geworden für Deutschland und Österreich, er zeigte seine erste Modenschau für Chanel in der École des Beaux Arts in Paris. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft, in der man beim zugewandten „Sie“ blieb, die das besondere Wort „Geheimrat“ verdiente, das er für sich und sie erfand.
Schon bei ihrem Vortrag im Kamp’hüs in Kampen auf Sylt am vergangenen Donnerstag blieb ich bei diesem Begriff hängen. Ich recherchiere. Im Wörterbuch für deutsche Sprache von 1808 steht, dass es eine Bezeichnung ist für die „innersten Landessachen und die persönlichen Verhältnisse des Fürsten“.
Foto Helmut Newton, Karl Lagerfeld, im Hintergrund sein Butler, gewidmet an Marietta
Es passt zu dem, was Marietta erzählt, die Nähe, die Vertrautheit, die würdigende Distanz, und wie sie über all die Jahre umsichtig und professionell seine Belange organisierte. So etwas prägt beide Seiten.
Toska und ich sitzen in dem ausverkauften Saal und hören zu, wie Marietta Andreae mit ruhiger rauchiger Stimme die kleinen Annekdoten aneinanderreiht und gleichzeitig immer wieder auf das Wesen dieses genialen Designers, Zeichners und Universaltalentes zurückkommt.
„Der private Karl war unglaublich warmherzig, liebevoll, nahbar, emphatisch, großzügig, humorvoll und sehr interessiert an den Menschen, die ihm nahestanden“, schreibt sie gleich zu Beginn in ihrem Rückblick.
(v. l.) Bettina Borisch, ich, Toska, Gabriele Pochhammer im Foyer des Kamp’hüs.
Gestern haben Marietta und ich uns in meinem Strandkorb verabredet, um aus dem Vortrag ein persönliches Gespräch zu machen. Toska sitzt dabei, Karen Michels gesellt sich ebenfalls eine Weile zu uns. Es ist herrlich draußen, wir bleiben ungestört.
Wir beide kennen uns schon lange, ohne uns zu kennen. Mit Freude nahm ich ihre regelmäßigen Event-Einladungen an, aber Zeit für einen Plausch gab es nie. Nun sitzen wir nebeneinander und umkreisen einen der ganz großen Kreateure, der aus Mode so viel mehr machte als nur Modelle und Looks. Unter ihm wurde Chanel zur wertvollsten Marke der Welt. Er gehört zu meinen Vorbildern.
In ihrem Buch zeichnet Marietta sein öffentliches Leben nach und dreht es wieder in die Privatheit, die gemeinsamen Erlebnisse, wenn sie beispielsweise als PR-Verantwortliche neben ihm stand, er die endlosen Interviews gab und dann ihre Hand ergriff, um ihr auf französisch leise ins Ohr zu flüstern: „Ich fühle mich wie eine ausgepresste Zitrone, aber das ist völlig in Ordnung.“
Toska und ich tragen Yves Saint Laurent Vintage
Wir Zuhörenden haben das Gefühl, ein Teil des Inner-Cicles zu sein, so selbstverständlich und eindringlich schildert sie die Begegebenheiten. Ich ertappe mich dabei, dass ich auch plötzlich „Karl“ sage, als hätten wir uns gekannt.
„Ich kann ja nicht unbedingt sagen, dass ich der unbekannteste Deutsche bin, den es je gegeben hat“, zitiert sie ihn. Stimmt, aber nun bekommen wir „backstage“ Eindrücke zu hören.
Die Autorin und Zeitzeugin aus erster Hand hält in ihrem Buch fest, was sonst vielleicht verlorengehen könnte. Direkt nach seinem Tod begann sie mit dem Schreiben, dem Selektieren ihrer vielen Briefe, Fotos und Zeichnungen, die er ihr über die Jahre gewidmet hat.
Er rief die Métier d’Art Chanel Schauen ins Leben, die das Handwerk huldigen, ohne das es keine Haute Couture gäbe. Er, der nie eine Schneiderlehre gemacht hatte, wusste, wie wichtig das Team ist, die Kenntnisse und Fertigkeiten der „Petites Mains“. So schuf der Unermütliche, der Rastlose, sein ganz besonderes Universum, das aus einem respektvollen Miteinander bestand.
Sich selbst bezeichnet er als langweilig, als „Tugendpinsel“. Ich lache und erzähle Marietta, das ich mich auch gern als „Spießerin“ vorstelle, die jeden Tag zur gleichen Zeit aufsteht, am Schreibtisch sitzt, ans Meer geht … Sie schaut mich an: „Hätte Karl auch so sagen können.“
Marietta Andreae mit ihrem Muschelschal von Roma e Toska.
Ich muss an Alexander von Humboldt denken, den anderen berühmten Deutschen mit preußischer Erziehung, der so gern in Paris lebte, wenn er nicht unterwegs war, der ebenfalls mit schnellem Geist und schneller Sprache das Gestern, Heute und Morgen zusammenfasste. Sie sind sich ähnlich in ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten, vielleicht auch in der Einsamkeit, allein in ihren Wohnungen mit all den Büchern. Der eine mit den bunten Stiften, die über das Papier ganze Kollektionen ausbreiten, der andere mit der Feder in der Hand für die Korrespondenzen rund um die Welt.
Die Zeit vergeht. Es gäbe noch so viel zu fragen und auszutauschen. Aber es gibt ja das Buch, das Marietta für Toska und mich signiert. In diesem Jahr wäre Karl Lagerfeld 90 geworden. Er dachte immer, er würde steinalt werden, so wie Queen Mum, die er in seinem Schlößchen und Garten empfing. Eine Wahrsagerin hatte ihm gesagt, er hätte selbst seherische Fähigkeiten. Gewiss, er konnte die Trends sehen, wohin die Mode und die Gesellschaft sich entwickeln. Was sonst noch? Geheimräte wissen beredt zu schweigen.
Und Marietta, die Weggefährtin über so lange Zeit? Sie bedankt sich für unser Gespräch mit der eleganten Bescheidenheit der Grande Dame. Ich bin beglückt über diese besondere Begegnung im Strandkorb, die sich so unkompliziert und spontan ergab.
Meine Sommerlektüre: Marietta Andreae „Mein Geheimrat Lagerfeld“, Felix Jud Verlag, 2023, 277 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, € 38.
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