„Do you think anyone escapes their childhood? fragte Leonora Carrington ihre entfernte Verwandte, die Journalistin Joanna Moorhead, als diese sie das erste Mal in Mexiko besuchte. Die Künstlerin war damals 75 Jahre alt, ein bewegtes Leben lag hinter ihr. „I don’t think they do“, gab sie selbst die Antwort. Auf der Seite der 2023 erschienen Biographie „Surreal Spaces. The Life and Art of Leonora Carrington“ muss ich wohl ein wenig in Gedanken verweilt haben. Der Satz ist mit Bleistift unterstrichen.

19017 wurde Leonora Carrington in der Nähe von Lancashire, der Hafenstadt im Norwesten Englands geboren. Die Mutter stammte aus Dublin, der Vater hatte es in der Textilindustrie zu einem beachtlichen Vermögen gebracht. Die Familie mietete wenig später Crookhey Hall, ein imposantes, ein wenig furchteinflößendes Anwesen, das in ihren Gemälden immer wieder auftaucht.

Typisch für die damalige Zeit, besuchten die zwei Brüder Eliteschulen, die Tochter blieb mit der französischen Gouvernante und Lehrerin allein zu Hause. Sie tauchte ein in ihre Fantasie-Welten mit Drachen und Vogelwesen, Pferden, Priesterwesen und Zaubergärten. Eine innere Realität, die in ihrer Kunst ihren Ausdruck fand.

Cookhey Hall, 1947 (Lithographie, 1987)

Zweimal wurde sie der Kloster-Schule verwiesen. Die Eltern wollten sie ehrgeizig in die englische Aristokratie verheiraten. Sie langweilte sich auf den Debütantinnen-Bällen und verweigerte die Society Events.

Green Tea, 1942

Dann lernte sie in der ersten Surrealismus-Ausstellung in London, 1937, die Werke von Max Ernst kennen. Sie verliebte sich in die Malerei bevor sie sich in den Künstler verliebte. Es war eine ihr bekannte Sprache, die zwischen den Welten wandert. Auf einem Dinner traf sie kurz darauf Max Ernst. Sie war gerade zwanzig, er Mitte vierzig.

Der Vater intervenierte, verklagte Max Ernst als pornographischen Künstler. Sie flüchteten nach Cornwall, trafen dort Lee Miller mit ihrem Freund Roland Penrose. André Breton kam dazu mit seiner Freundin, der Dichter Paul Éluard und seine Frau Nusch. Leonora war im Zentrum der intellektuellen und künstlerischen Avantgarde angelangt.

Lee Miller, Ady Fidelin, Nusch Éluard, unten Leonora Carrington, Cornwall 1937

Es folgte ein knapper Abschied von der Familie, die sich von ihr abkehrte. Den Vater sollte sie nie wiedersehen. Erst Paris, dann Südfrankreich. Mit dem heimlich zugesteckten Geld der Mutter kaufte Leonora ein kleines Haus in Saint-Martin-d’Ardèche.

Sie lebten eine unbeschwerte Liebes-Idylle, vielleicht die schönste Zeit ihres Lebens. Sie schrieb und malte. Das Haus wurde von innen und außen mit Kunst versehen. Ich muss an die Tante und den Onkeln in Warschau denken. Manches ähnelt sich.

The Horses of Lord Candlestick, 1938

Der Ort wurde erneut zum Treffpunkt der Freunde. Peggy Guggenheim kaufte das erstes Bild von ihr. Dann kam der Krieg. Max Ernst geriet als Deutscher in französische Gefangenschaft, kam frei, wurde wieder interniert. Leonora erlitt einen Nervenzusammenbruch. Zusammen mit einer Freundin floh sie nach Madrid. Und wieder erreichte sie der lange Arm des Vaters, der sie in eine psychiatrische Anstalt stecken ließ. Drei lange Jahre. Bis ihr die Flucht mit Hilfe eines mexikanischen Freundes gelang. Er heiratete sie, sie schlugen sich durch nach Portugal und von dort nach New York.

Leonora Carrington, in Kollaboration mit Max Ernst, Marcel Duchamp und Roberto Matta, 1941

Hier trafen sich die Surrealisten erneut, gruppiert um Peggy Guggenheim, der neuen Geliebten von Max Ernst. Leonora war die einzige Künstlerin unter ihnen, aus dem Schatten ihres einstigen Weggefährten getreten, mit der Sprache ihrer Kindheit, als hätte sie sie nie verloren.

Jede Station ihres Lebens wäre ein eigener Beitrag. Ich übe mich in den Weglassungen. Zusammen mit ihrem Ehemann ging es weiter nach Mexiko, einem Land, das keinen Surrealismus brauchte, da es zutiefst surreal ist. Hier fand sie ihre künstlerische Heimat und wird neben Frida Kahlo bis heute als eine der bedeutendsten Malerinnen dort gefeiert.

Es gibt so viele Übereinkünfte zwischen meiner aktuellen Kollektion CHILDHOOD und dem fantastischen Werk von Leonora Carrington. Joanna Moorhead fragte die Künstlerin bei einem ihrer Besuche zwischen 2006 bis zu ihrem Tod 2011: Was ist Surrealismus?

„It is a belief, that nothing is ordinary; that everything in life is extraordinary.“

Auf ARTE in der Mediathek läuft derzeit eine ausführliche Dokumentation über Leonora Carrington.