Heute ist der Geburtstag meiner ältesten Tochter Roma. Sie ist 28 Jahre alt geworden und lebt 9.554 Kilometer von mir entfernt auf der Île de La Réunion, dem französischen Départment d’Outre Mer im Indischen Ozean. Dort ist es jetzt zwei Stunden später, und sie amüsiert sich mit dem Gedanken in einer anderen Zeit zu leben, statt wirklich weit weg. „In meiner Zeit-Welt ist gerade Winter und um Mitternacht bin ich schon Morgen und Ihr seit noch im Gestern.“ (aus Romas Brief an mich)

Nun bin ich es, die ihr schreibt, einen offenen Brief, wie ihn schon Toska zuvor an ihrem Geburststag erhalten hat, aus meiner Zeit heraus, die eine ganz andere andere ist, mit dem Duft der würzigen Nordseeluft und den Hortensien vor dem Fenster, verbunden mit Küssen in die Zukunft und einer wiegenden Umarmung, wie sie zu uns gehört als Mutter und Tochter und nicht als zwei Freundinnen. (Wir sind klug genug zu wissen, dass wir letzteres niemals füreinander sein wollen, wir sind tiefer innig verbunden.)

Mein liebes Römchen, meine alte Seele,

wie so oft lausche ich aus der Ferne in Dich hinein, denke an Deine Worte und wandere in Gedanken mit Dir über das Geröll der Berge auf Deiner Insel. Mal gehst Du vor, mal führe ich. Immer schon habe ich Dich beobachtet, von Dir gelernt, meine eigene Welt neu zu sehen oder gar neu zu definieren. Mein Besuch im Frühjahr auf der Réunion in Deinem verwunschenen Wellblech-Zuhause war ein Wendepunkt in meinem Leben, eine große Befragung meiner Generation, die so viel vermasselt hat, die sehenden Auges die Missstände negierte und stattdessen von „Gewinnoptimierung“ und „grenzenlosem Wachstum“ sprach. Die Welt hinterlassen wir für Euch Jüngere nicht befriedet, und die nächsten Jahre werden unübersichtlich schwierig werden.

Du hast Dich sehr bewusst für die Idylle entschieden. Das Kriegsgetröse ist fern. Aber vieles erreicht Dich doch. Ihr dürft nicht baden, wenn es geregnet hat, weil zu viele Pestizide aus den Feldern in das Meer fließen. Die Straßen in Deinem Paradies sind verstopft mit alten Autos, die die Luft verpesten. Statt in Public Transportation, investierte man in überdimensionierte Umgehungstrassen. Du musst das parallele Denken lernen, das Kochen in Deiner Küche mit dem Blick über das Meer und gleichzeitig das Bewusstsein, wie man das Schöne und Wesentliche auf dieser Erde erhalten kann.

Du verbindest die existentiellen Extreme: das Essen und den Verstand. Wahrscheinlich hast Du schon ein paar Erdzeitalter-Runden gedreht, anders kann ich mir Dich nicht vorstellen. Nutze all Dein Wissen und Deine Intiution, um die Dämonen zu zügeln und Dich durch dieses Leben zu schlängen, in dem andere Dir folgen und wie ich von Dir lernen und Du von ihnen als permante Anpassung an das, was war, was ist und sein wird. 

Happy Birthday Engelchen. Die Tautropfen sind für Dich heute morgen im August. Kuss. Mami (hinter dem Fenster mit dem Blick auf die Blumen und der frühen Sonne, die sich in den Scheiben spiegelt.)