Es ist noch dunkle Nacht, als ich aus dem Fenster des Zuges schaue, auf dem Weg zurück nach Sylt. Nichts lenkt mich ab, außer vielleicht das Licht von ein paar Baustellen, an denen wir uns langsam vorbeischieben. Was war das Außergewöhnliche an dem gestrigen Abend, frage ich mich. Einige euphorische Kommentare erreichten mich direkt nach dem Event: „Dieser Abend war der Knaller“, schrieb eine Freundin, „höchst anregend und amüsant“, eine andere. Also was war es, dass uns alle, die wir gedrängt beisammensaßen, so fesselte? Unser Gast Marietta Andreae.

Ihre Erzählung hatte etwas mit Stil zu tun, mit einem altmodischen Begriff von Erziehung, Bildung, Anstand und Respekt. Wir wurde Zeugen von einer vergangenen Epoche von Mode, der Welt von Karl Lagerfeld, Backstage Chanel, geschildert von ihr als seiner engen Weggefährtin über viele Jahre.

Sie hat ihre Erlebnisse in einem Buch zusammengetragen. Annekdoten mischen sich zwischen Fotos, Briefe, schnell hingehuschte Skizzen, Widmungen, die eine außergewöhnliche Freundschaft umkreisen. Wir sehen vor uns seine Wohnung in der Rue de l’Université in Paris, das Fotoshooting auf Sylt, die Häuser, die Marietta für Karl anmietete mit den Freunden dazu, die Logistik der Schauen mit Slots für die internationalen Journalisten …

Wer gedacht hat, es wird eine Lesung, hat sich geirrt. Auf unsere typische IT’S A DIENSTAG Weise wird es ein Gespräch zwischen ihr und mir, das sich auf den Kreis der Gäste ausweitet. Erzähl uns von Claudia und das „grüne Verbrechen“ in der Sylter Heide, von der Modenschau im Museum für modere Kunst in Frankfurt, Karls Diät, warum er immer zu spät kam …

Marietta lässt uns ganz nah herankommen an den großen Designer, der aus sich selbst eine Ikone machte mit grauem Zopf, Stehkragen und Sonnenbrille. Sie schützen den Menschen dahinter und lassen ihn verschwinden. Rund um die Welt wurden hunderte, ja tausende Artikel über Lagerfeld und das Haus Chanel geschrieben. Aber wer ist Karl?

Er besaß bei Chanel eine Anstellung auf Lebenszeit, einen Vertrag von nur einer Seite. Karl Lagerfeld erfand zwölf Jahre nach dem Tod von Coco Chanel das Label neu: reflektierend, schillernd, frech, geistreich, spielerisch, auf intelligente Weise kommerziell.

Zu den Annekdoten gehören die Sprüche: Das Leben ist keine Einbahnstraße. Geld muss man zum Fenster herauswerfen, um es durch die Tür wieder reinzulassen … Er machte Chanel zur wertvollsten Marke der Welt. Einen Pass brauchte er nicht mehr:

„Ich kann ja nicht unbedingt sagen, dass ich der unbekannteste Deutsche bin, den es je gegegeben hat.“

Irgendwann bezeichnete er sich selbst als „Geheimrat“, ein Titel, den auch Goethe innehielt, der unmittelbar ins Zentrum der Macht führt, reserviert für den Träger von Geheimnissen, den Diplomaten, den unermüdlichen Gestalter, den die diskrete Verschwiegenheit umgibt. Wie nah kommt man so einer Person wirklich? Ich möchte es die „Einsamkeit“ des genialen Künstlers nennen, aber Marietta lässt es nicht zu.

Lagerfeld war ständig (bis auf seine heiligen Wochenenden) von Menschen umgeben, er liebte Geselligkeit, das Team, die Freunde. Wer von uns wusste schon, dass er ein begeisterter Tänzer war, jemand, der sich gern auf Späße einließ? All das ist in ihrem Buch nachzulesen.

Oft träumte er nachts seine zukünftigen Kollektionen, stand dann auf, um sie an dem kleinen Sekretär neben seinem Bett mit seinem unnachahmlichen Strich festzuhalten. Ich muss an den anderen deutschen Weltbürger denken: Alexander von Humboldt, der, wenn alle anderen schliefen, seine Briefe verfasste. Ebenso rastlos, ebenso ein Workaholic, mit einem brillanten Gedächtnis, preußischer Erziehung, eine Persönlichkeit, die niemand wirklich entschlüsseln konnte.

Marietta und Karl blieben ihr Leben lang bei dem „Sie“, an dem er sich festhalten konnte, das diese zarte Person immer wieder auch zur Stütze werden ließ. Mit Marietta wird das Bild Karl Lagerfeld für uns lebendig. Neugierig hören wir die Geschichten von Claudia (Schiffer), Inès (de la Fressange), den Künstlern und Stylisten, Make up Artists bis hin zum Fahrer. Vergeblich sucht man den Platz für die Super-Egos, die meinen, die (Mode-)Welt zu reagieren.

Mit jedem Satz, den ich schreibe, wird mir das Einzigartige des gestrigen Abend bewusster: Es ist die sanfte, ruhige und gleichfalls amüsante Erzählweise von Marietta, die uns als Zeitzeugin durch eine geheime Tür schauen lässt, um einen persönlichen und privaten Blick auf einen der wichtigsten Designer und außergewöhnlichsten Menschen des 20. Jahrhunderts zu erheischen. – Danke Marietta!

Marietta Andreae. Mein Geheimrat Lagerfeld, Felix Jud Verlag, € 38,00. Ein paar Expemplare haben wir bei uns für Euch reserviert.