Es ist Montag, es ist Mittag, und Dr. Karen Michels und ich haben uns erneut zum Lunch hier oben in der Poolstrasse 12 im Tempel von 1844 verabredet. Lächerlich die 2.000 Jahre Kunstgeschichte vom letzten Mal, diesmal geht es noch viel weiter zurück bis in die Bronzezeit (3.600 – ca. 800 v. Chr). Wir tauchen ein in eine der spannendsten Kulturgeschichten der Welt. Hinter meinem Türchen No.8 im Adventskalender verbirgt sich die Himmelsscheibe von Nebra, „der geschmiedete Himmel“.

Ihre Entdeckung gleicht einem Krimi im Hollywood-Format. Beinahe atemlos lausche ich meiner Gesprächspartnerin, die, typisch für sie, von Null auf Hundert durchstartet. Wir haben das Jahr 1990, Raubgräber laufen mir ihren Metalldetektoren über den Berg bei Nebra, unweit von Halle in Sachsen-Anhalt.

Und sie werden fündig, dicht unter der Oberfläche entdecken sie eine Armspange, Schwerter und eine aufrecht stehende Scheibe, so groß wie eine Schallplatte. Die Gegenstände sind nicht nachlässig vergraben, es sieht aus, als wären sie regelrecht bestattet worden.

Die Kerle wissen, dass sie solche Funde abgeben müssen, dass ihr Weiterverkauf strafbar ist. Sie tun es trotzdem und veräußern den Schatz ohne weitere Recherchen an einen rheinischen Kunsthändler. Der verkauft ihn mit sattem Gewinn an den nächsten, und so geht es weiter, bis 2002 Harald Meller, der Landesarchäologe von Sachen-Anhalt, davon hört, das LKA  einschaltet, die Staatsanwaltschaft auf den Plan ruft und sich eine Task Force bildet: Finde diese ominöse Scheibe!

Wieder so eine Sternstunde! Hier am Esstisch an einem grauen belanglosen Montag-Mittag vermittelt sich Kulturgeschichte als Thriller. Nicht im Traum hätte sich der Chef-Archäologe aus dem Osten solch eine Story vorstellen können. Man verabredet sich konspirativ in einer Hotelbar in der Schweiz. Der vermeidliche Besitzer trägt das Objekt in ein Tuch gewickelt unter dem Sakko. Die Polizei schlägt zu, und irgendwann sitzt Meller überglücklich wieder im Zug nach Hause, die Himmelsscheibe bei sich, noch nicht ahnend, dass neben ihm auf dem Sitze ein UNESCO-Welterbe der Menschheit liegt.

Die Geschichte ist so spannend, dass Karen und ich uns kaum dem köstlichen Essen von HejPapa, unseren Nachbarn, widmen können. Gedrängt erzählt sie, und ich notiere kaum leserlich meine eiligen Halbsätze und Stichworte. „Ich sag Dir alles!“ schleudert sie mir entgegen und lacht. Unbedingt, der Krimi hat ja gerade erst angefangen.

Nun ist das Objekt zwar in Sicherheit, aber es entwickelt sich ein bronzezeitliches Netzwerk über ganz Europa. Das glaubt man nicht. „Da fällt einem glatt die Gabel aus der Hand.“ (O-Ton Karen)

Bislang hatte ich ohne weitere Prüfung angenommen, dass sich in Persien, Ägypten und Griechenland die Kultur abspielte, während man hier im germanischen Norden noch auf den Bäume hockte. Weit gefehlt, der Mittelberg, die Fundstätte, war damals Verkehrsknotenpunkt von verschiedensten Handelsruten. Und man entdeckte noch weitere 1.000 Gräber aus der Jungsteinzeit.

Karen genießt meine Verblüffung, um eilig ein paar Bisschen runterzuschlucken, bevor sie den Grund für diesen „traffic“ schildert. Der schwere Lössboden der Region ist der beste, den man über die Jahrtausende in der Landwirtschaft finden kann, dazu die Wälder mit dem Wildbestand, jeder Pfeil ein Weihnachtsbraten. Nun ja, wir lachen …

Zurück zur Scheibe und ihrem Material, das abenteuerliche Wege genommen hat. Das Kupfer kam aus Österreich, der Zinn aus Südbritannien, um dann in Mittelberg zu Bronze verschmolzen zu werden. Wir stellen uns bitte vor, wir sind ungefähr 1.800 v.Chr. und nicht heute, wo die Deutsche Bahn die Route in wenigen Stunden trotz Verspätung bewältigt.

Ursprünglich war die Scheibe dunkel-blau-braun, dem Himmel viel ähnlicher als mit dem Grün von heute. Um diese Farbe zu erhalten, musste man die Bronze in vergorenen Urin legen. Ich denke an meinen Stoffdesigner Riccardo und seine Textilien, die er mit Tee und vielleicht auch mit diesen Körpersäften veredelte. Who knows.

Es wird immer bizarrer, zu welche Ergebnissen die Wissenschaftler kommen und wie sich die Archäologie der Hochtechnologie von Physik und Chemie bedient. Ganz neue Berufsfelder tun sich auf. Das Gold kommt übrigens aus dem Carnon River in Cornwall, so genau kann man die Analysen anstellen.

Nun wird es im wahrsten Sinne des Wortes „kosmisch“, denn wir gelangen von den Materialien zu dem Dargestellten. Hier gibt es eine Abfolge, nicht alle Elemente waren gleichzeitig vorhanden, wie die Wissenschaftler feststellten. Mittlerweile sind auch Experten der Weltraumforschung involviert, das Team kann hochkarätiger kaum sein.

Als erstes gab es die Anordnung der sieben Kreise, die die Plejaden darstellen, Ich müsste sie nachts oder frühmorgens über dem Kapitänshaus in Kampen entdecken, denn von Juli bis April sind sie am nördlichen Sternenhimmel sichtbar. Es sind „Kalendersterne“, mit deren Hilfe man die Jahreszeiten bestimmen konnte.

Nun kommt Rahlf Hansen vom Planetarium in Hamburg auf den Plan. Die Form des Mondes auf der Himmelsscheibe von Nebra lässt ihm keine Ruhe. Hat sie eine Bedeutung? Wir würden uns diese Frage nie stellen, für uns wäre es einfach eine kindliche Darstellung der Sichel gewesen. Aber (!), er findet heraus, dass es ein 4-Tage-Mond ist. Nun halte ich wirklich die Luft an, so aufregend ist es. Nur der 4-Tage-Mond steht in einer Verbindung zu den Plejaden. Und nur in diesem Moment kann man die Divergenz zwischen Mond- und Sonnenjahr ausgleichen.

Ich verstehe es nicht, Astrophysik war nicht gerade mein Spezialgebiet, aber der Auftraggeber der Himmelsscheibe verstand es vor 3.600 Jahren. Er glaubte an seinen Zugriff auf die göttliche Macht des Universums: Man braucht ein Schaltjahr, einen extra Tag, ein paar zusätzliche Stunden, damit der Lauf von Sonne und Mond kongruent werden.

Die Himmelsscheibe von Nebra ist aber nicht nur die erste konkrete Darstellung der Himmelswelt, sondern auch ein Observatorium, denn man konnte, wenn man sie hochhielt, die Sonnenwende vom 21. Juni und 21. September erkennen. Der Besitzer macht sich zum Zauberer, der den Menschen erzählen konnte, wann die Tage länger oder kürzer wurden.

Wiederum Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später kommt noch die Sichel unten dazu. Es ist eine Barke, wie sich im Vergleich mit Darstellungen der Perser, Babylonier und Ägypter beweist. Es ist ein Schiff, das die Sonne über den Horizont in das Dunkel trägt und am nächsten Tag wieder zurück. Damals erklärte man es sich so, heute ist diese Darstellung in ihrer Poesie kaum zu übertreffen.

Und nun kommt das Finale, wir haben uns einen Espresso gemacht, und wechseln mit dem überirdisch schmeckenden Apfelkuchen von HejPapa in den Hauptraum des Tempels, von dem aus der Chor in das Mittelschiff sang.

Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Aber es gilt noch zu rekonstruieren, wie das Wissen um die Schaltjahre nach Nebra kam. Könnte sich wie in einem Märchen anhören. Nehmen wir an, der erste Auftraggeber, der Herrscher, hatte einen Sohn, einen Prinzen, der sich langweilte und in die Welt hinaus zog.

Über die Flüsse Unstrut und Saale gelangte er bis zur Donau und weiter zum Mittelmeer. Durchaus damals schon möglich, wie das Wissenschaftsteam um Harald Meller rekonstruiert.

Nun helfen die Schwerter aus der Fundstätte weiter bei der Suche, besonders das eine, auf dem eine drei-köpfige Schlange eingeritzt ist, sie ist das Indiz und verweist auf den ägyptischen Sonnenkult, die Babylonier und den König Hammurabi (1728 – 1686 v. Chr.), die um das Geheimnis von der Harmonisierung von Sonne und Mond wussten. Unser Prinz muss davon gehört haben.

Aber warum hat man diese bedeutende Scheibe vergraben, ihr einen Goldbogen abmontiert, um sie so nutzlos zu machen? Vermutungen. Im 17./16. Jahrhundert v. Chr. brach auf der Insel Santorini der Vulkan Thera aus und hüllte ganze Europa in Dunkelheit. Die Beobachtung der Gestirne war eventuell nicht mehr möglich, der Abendhimmel verfärbte sich blutrot, es war unheimlich, Katastrophen folgten. Vielleicht wollte man die Scheibe opfern, um die Sonne wieder gnädig zu stimmen.

Abb: Bluse Kopernikus, Seiden-Jacquard schwarz (€ 498)

Unser Kaffee ist getrunken, Quiche, Salat und Kuchen gegessen. Ich bin vollkommen fertig von der Geschichte, sechs enggeschriebene Seiten mit Notizen. Das Erstaunliche, alles fand so gut wie vor unserer Haustür statt, nur ein paar wahnwitzige Jahrtausende zuvor. Wäre ich noch einmal Anfang 20, ich würde Archäologe, Physik, Chemie und am besten noch Astrologie studieren, um einen solchen Krimi zu leben.

Wer dieses Adventskalender-Türchen aufmacht, der kann sich gleich den Tag freinehmen, denn diese Geschichte will weitererzählt werden. Das Buch dazu gibt es geschenkt, von mir, zusammen mit dem Kauf der Kopernikus-Bluse, die an den großen Gelehrten erinnert, der die Himmelsscheibe von Nebra zwar nicht kannte, aber sehr wohl das astrologische Wissen der Perser, Griechen und Araber. Er revolutioniert den Himmel und leitete ein neues Zeitalter ein.

Die Himmelsscheibe von Nebra ist in der permanenten Ausstellung des Museum für Vorgeschichte in Halle zu sehen.