Tag 10 auf der Insel ist definitiv der heißeste Tag. Ich sitze draußen im Schatten und schreibe, gebe mich dem Irrglauben hin, ich wäre Moskito-resitent, hätte eine besondere Blutmischung. Entweder mussten sie erst auf den Geschmack kommen, wie Roma meint, oder ich bin nur zu konzentriert, um die unzähligen Stiche zu bemerken, die mir Stunden später eine unruhige Nacht verschaffen. Es ist Hochsommer und gleichzeitig Regenzeit, ein Ort der Extreme, der seine dunkle Vergangenheit besitzt. Ich recherchiere ein wenig und addiere, was Roma mir alles erzählt: Île de Bourbone – Île des Esclaves (maron).

La Réunion ist keine Kolonie, denn die Insel war bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts unbewohnt. Erstmals wurde sie von arabischen Seefahrern gesichtet, dann war sie Zwischenstation für Schiffe auf den Handelsruten nach Indien und China. 1640 erklärte sie der französische König Ludwig XIII aus dem Geschlecht der Bourbonen zu seinem Territorium: Île de Bourbon.

Erstes Siedler*innen begannen Kaffee anzubauen, später Vanille und Zuckerrohr. Man brauchte Arbeitskräfte und kaufte und verschleppte Sklaven aus Madagaskar, Ost-Afrika und Indien auf die Insel.

Wir besuchen die älteste Kaffee-Plantage der Réunion. Auch wenn nur noch wenig Mauern bzw. Grundmauern stehen, so atmet diese Stätte doch die Geschichte über zwei Jahrhunderte. Auf 10.000 Einwohner der Insel kamen am Vorabend der Französischen Revolution (1793) ca. 35.000 Sklaven, 1811 waren es schon ca. 50.000.

Ich springe in meinen Gedanken, denn zu genau dieser Zeit (1811) entstand das Muschelbild von Alexander von Humboldt, das nun meine Bluse ziert. Er war ein vehementer Gegner des Sklaverei, weswegen ihm die britische Ost-India-Company die ersehnte Reise nach Indien verbot. Ob er sonst an dieser Insel vorbeigekommen wäre?

Frankreich hatte mit den Droits de l’Homme et du Citoyen 1789 die Gleichheit der Menschen erklärt. Jedoch galt es nicht auf den Departments d’Outre Mer oder wurde dort ingnoriert. Es sollte noch sechzig weitere grausame Jahre dauern bis die Sklaven 1848 ihre Freiheit erkämpften.

Solange blickten Jacques-Francois Desforges-Boucher und seine Nachfolger von ihrem Herrenhaus, dem Maison Rouge, auf die in der Hitze der Sonne arbeitenden Männer und Frauen. Das Gebäude ist eingerüstet, droht zu verfallen. Es fehlt das Geld für die Restaurierung. Und so trägt dieser Ort die Last der doppelten Geschichte der Insel, die sich seitdem La Réunion nennt.

Allerdings gibt es auf der Réunion eine besondere, wichtige Fußnote der Geschichte: ein nicht unbedeutender Prozentsatz der Sklaven  konnte in die unwegsamen Bergregionen fliehen und dort unabhängige freie Gemeinschaften bilden. Man nennt sie mit Stolz die „Esclaves Marons“.

Ein erneuter Blick auf die Landkarte zeigt, von welch großen Kulturen La Réunion umgeben ist: Afrika, Madagaskar, die arabische Halbinsel, Indien, China …  Das kleine Musée des Arts Décoratifs de L’Océan Indien (MADOI) zeigt die Artefakte dazu.

Und wie so oft, sind es gerade diese kleinen Museen, die den Blick für die Details und den großen Kontext schärfen. Die einzige Aufseherin freut sich, dass überhaupt jemand vorbeischaut, und pflichtbewusst folgt sie uns auf Schritt und Tritt.

Pelikan auf Schildkröte, China 17. Jahrhundert

Nachts stehe ich auf, geplagt von Juckattacken. Der Mond steht über mir, die Sterne, vor mir die Bucht mit den Lichtern. Was für eine besondere Welt hier, die mich emotional in ihren Bann zieht mit all ihrer Vielfalt … Die Nachkommen der damaligen Siedler und Sklaven nennen sich heute „Kreolen“, eine verhältnismäßig friedliche und homogene Gesellschaft, wie sie es beschreiben.

Gäbe es nicht diese verdammten Moskitos, würde ich draußen mein Lager aufschlagen, auf der Terrasse unter dem Himmel mit den Geräuschen der Tiere rundherum und den wirren Träumen, die keine Orientierung zulassen.

Und morgen berichte ich von einem nächsten Rezept von Roma, denn zwischen Natur und Kultur gibt es das Essen, die duftenden Zutaten, das Menue am Meer, mit den Füßen im Wasser und der Sonne, die leuchtend untergeht.