Es ist kurz vor Mitternacht, als ich das Licht ausknipste. Nachdem die Gäste gegangen waren, hatte ich mir das Buch von David Foster Wallace vorgenommen: „Am Beispiel des Hummers“. Die englische Ausgabe schwirrt irgendwo unauffindbar herum: Consider the Lobster, 2005 in den USA erschienen. Ich liebe es, vor dem Einschlafen zu lesen, diesmal bin ich allerdings betroffen wie selten, meine Speisekarte wird sich grundlegend ändern, wie manch anderes ebenso.

David Foster Wallace (1962 – 2008) gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen amerikanischen Schriftstellern. Sein Scharfsinn ist unnachahmlich, seine präzise beißende Darstellung ebenso. Scheinbar leichtfüßig beginnt er die Schilderung, in diesem Fall ist es das jährliche Lobster-Festival in Maine, und führt uns dabei unmerklich in die Tiefen und Untiefen des Menschensein: am Beispiel des Lobsters.

Er erzählt in Parallelen, da gibt es zum einen den Fließtext, er als Journalist (in der 3. Person), der für eine Gourmet Zeitschrift von dem Ereignis berichten soll, die Wahl der Maine-Seegöttin, Kochwettbewerbe, Paraden usw. Darunter stehen Anmerkungen, die ihre andere Wirklichkeit besitzen. Gleich auf der zweiten Seite heißt es über die Schauplätze an der Ostküste der USA: „1 Einheimische erkennen die beiden Städte schon an ihrer Luftqualität und fassen den Unterschied folgendermaßen zusammen: ‚Camden am Meer, Rockland am Arsch.‘

Hummer sind 199 Millionen Jahre alt, „dass sie fast schon von einem anderen Planeten kommen könnten.“ Mit wenigen Sätzen skizziert er ihre Neuengland Vergangenheit und ihre Biologie, nur um dann bei ihrer Zubereitung zu landen: Im weltgrößten Hummerkessel. The World Largest Lobster Cooker, der hundert Tiere auf einmal bewältigt, wie es auf Seite 30/31 heißt.

Klaus Dupont: Lobster, vergoldet mit Lapislazulispitze (€ 2.800)

Wir werden nicht nur zu Zuschauern des Spektakels, sondern die Wortwahl verweist in eine düstere Vergangenheit. Unweigerlich kommt die Frage auf, ob das denn „in Ordnung“ sein kann.

Was sagt die Wissenschaft? Können Hummer fühlen, Schmerz empfinden, haben sie nicht ein dezentrales Nervensystem, das solche Gefühle nicht verarbeitet, demnach tut ihnen doch nichts weg – oder? Ich bin auf Seite 45 angelangt und beinahe physisch leide ich mit, bin unter der Bettdecke selbst zur Betroffenen, zum Hummer, geworden, der in der Tüte vom Supermarkt kommt, in der

… „praktischen Endkundenverpackung… Doch genau in diesem Moment geschieht es, das Grauenhafte. Egal wie benommen der Hummer (sprich ich um 23.18 Uhr) von seiner langen Reise sein mag, beim Kontakt mit dem kochenden Wasser erwacht er jedenfalls – alamierend! – zum Leben. Will man ihn aus der Verpackung direkt in den Topf schütten, kriegt man ihn häufig gar nicht raus, so heftig klammert er sich daran fest. Auch versucht er mitunter, sich am Rand des Topfes aus der Gefahr zu ziehen – wie ein Mensch, der an einer Dachrinne hängt.

Spätestens jetzt höre ich das Kratzen des imaginären Lobsters an der Aluminiumwand, während David Foster Wallace unbeirrt und faktisch präzise weiter erzählt, sich schnelle Ausflüge in die Ethik und Moral erlaubt, die wie Peitschenhieb aufrütteln. Nichts für empfindsame Gemüter, die den Hummer lieber schön garniert und ent-wesentlich auf dem Tisch serviert bekommen möchten.

Auf Seite 61, und es sind nur noch wenige Sätze bis zum Ende, bin ich vollends entsetzt und zutiefst beklommen. Anmerkung 21 hat es in sich, „denn bei der Aufrechnung geht es ja nicht um den Wert eines Menschenlebens gegen den Wert eines Tierlebens, sondern um den Wert eines Tieres gegen die Vorliebe des Menschen für eine bestimmte Art Protein„. Wir sind entlarvt!

Entschuldigt, mein Bericht ist viel länger geworden, als gedacht, zu nah bin ich dran und will es auch so belassen. Diese Erzählung lässt einen nicht mehr los und macht das „Consider the Lobster“ zum neuen geflügelten Begriff. Wofür? Macht Euch selbst ein Bild davon.