Es wird Zeit, dass wir uns wieder mal ein paar Bücher hervorholen – und das meine ich durchaus im doppelten Sinne. Wir haben uns doch alle damals in der Schule durch die „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz gequält, gequält, weil wir einfach nicht den richtigen Blicker für die enorme Tragweite dieses Buches besaßen und weil uns die Lehrer diese auch nicht vermitteln konnten. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern …

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Also, kaufen und verstehen, warum der schwer erziehbare Siggi Jepsen zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ ein leeres Schulheft abgibt. Auf das andere Buch des frisch gekürten Siegfried Lenz Preisträger Julian Barnes müssen wir noch bis zum Frühjahr warten. Christiane von Korff hat ihn getroffen und gesprochen …

„Flauberts Papagei“

von Kulturjournalistin Christiane von Korff

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Hier bin ich wieder – mit meinen neuesten Erlebnissen aus der Welt der Kultur. Olaf Scholz, der Erste Bürgermeister unserer schönen Stadt Hamburg, hieß den britischen Erzähler und Essayisten Julian Barnes willkommen im großen Festsaal des Hamburger Rathauses: „Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl in der wohl britischsten Stadt des Kontinents.“ Der Brite fühlte sich wohl. Denn er wurde mit dem Siegfried Lenz Preis als einer „der herausragenden europäischen Erzähler und Essayisten“ gewürdigt. Barnes ist der zweite Preisträger des bedeutendsten deutschen Literaturpreis für internationale Autoren. Im letzten Jahr wurde Amos Oz, eine der großen Stimmen der israelischen Literatur ausgezeichnet. Wer Lust hat, kann sich mein Interview mit diesem beeindruckenden Mann auf YouTube anschauen.

Siegfried Lenz „Die Deutschstunde“ und Amos Oz „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ und Barnes „Flauberts Papagei“ verbindet ihre elegante Prosa: Realistisch und höchst kunstfertig. Zur Preisverleihung reisten der Kiepenheuer & Witsch Verleger Helge Malchow aus Köln, der Laudator Neil MacGregor aus Berlin an. Michael Otto, der in der ersten Reihe saß, hatte es nicht so weit.

Flauberts Papagei

Neil MacGregor, enger Freund von Julian Barnes und  Intendant des Berliner Humboldtforums, fesselte uns. Seine Laudatio war so brilliant, dass ihn Verleger Malchow anschließend bat, ihm die Rede zu schicken, damit er sie übersetzen und veröffentlichen könne. Mühelos schlug der Schotte den Bogen von Barnes Romanen zu Siegfried Lenz. Barnes, so MacGregor,  gehe es in seinem neusten Roman „Der Lärm der Zeit“ – er wird nächstes Frühjahr auf Deutsch erscheinen –  wie Lenz in seinem Buch „Der Überläufer“ um die Frage, „Wer kontrolliert die Werte der Welt?“ Auch heute seien die Werte der Welt in Gefahr. Und wer könne sie bewahren? „Du! Du allein!“ Auch die Lehre der „Deutschstunde“ gelte immer noch: „Wir müssen uns vor den nationalen Rattenfängern hüten.“

Siegfried Lenz

Julian Barnes, ganz lässiger Feingeist, brachte uns mit seiner britischen Ironie zum Lachen, auch wenn es um ernste Themen wie den Brexit ging, den er als „Chaos“ bezeichnete. Am Wahltag habe er eine junge Frau vor der Kabine getroffen, sich mit ihr unterhalten und sie darauf hingewiesen, dass es Fans seiner Bücher verboten sei, für den Brexit zu votieren.

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Auf dem anschließenden Empfang war ich interessiert, wie Barnes den neuen Präsidenten der USA sieht. Der Schriftsteller antwortete mit typischem britischen Humor: „Wir haben ja nun eine slowenische First Lady im Weißen Haus. Also gibt es doch ein wenig europäischen Einfluss, denn Slowenien ist ja in der EU.“ Olaf Scholz hingegen fiel mir bisher eher mit hanseatischer Sprödigkeit auf. Davon war zu meiner Überraschung rein gar nichts zu spüren. Wie er Neil MacGregor und Julian Barnes heftig! gestikulierend! schwärmte! Ja wovon wohl? Von der Elbphilharmonie, die ja dann doch noch vor dem Berliner Flughafen fertig wurde. Und unser Bürgermeister war Ohrenzeuge als das NDR Elbphilharmonie Orchester die Akustik des Konzertsaals mit Stücken von Brahms, Mendelssohn, Mozart und Beethoven testete: „Das“, berichtete uns Scholz „war für mich ein sakrales Erlebnis.“

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Seine Worte in Gottes Ohr. Ich eile weiter von sakralen zu weltlichen Ereignissen: Marina Krauth, Inhaberin von Felix Jud, der schönsten Buchhandlung in Hamburg (reinstes Jugendstil) hat mir versprochen, dass sie mir einen „schönen“, jungen Mann zeigen wird. Dessen Plakat hängt im Schaufenster ihrer Buchhandlung. Ich sehe Senthuran Varatharajah, 32, er ist in den 80er Jahren mit seiner Familie aus Sri Lanka nach Deutschland geflohen. In seinem Debut „Vor der Zunahme der Zeichen“ erzählt er von Flucht und Ankommen. Heute Abend wird er aus seinem Buch lesen – Ulrich Greiner, DIE ZEIT, moderiert.

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