Wer kennt sie nicht, diese gedehnte Zeit an Bahnhöfen und Flughäfen, stöbern in Kiosken, immer den Blick auf die Uhr. Noch 20 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges, zwei Koffer, den Schal fest um den Hals geschlungen, unter dem Arm geklemmt die Tüte mit der Zimtschnecke, auf Kaffee verzichte ich dieses Mal, hatte schon zu viel an diesem Tag.

Ich studiere die Stapel mit Büchern, Neuerscheinungen, Krimis, Belletristik, Sachbücher, die Aufkleber mit „Spiegel Bestseller“. Nele Neuhaus über „Monster“, J.K. Rohling über „Fantastic Beasts and where to find them“, mein Blick scheint thematisch gelenkt. Und dann liegt da ein bescheidenes Büchlein zwischen den lauten Titeln: Nachmittage von Ferndinand von Schirach, im November 2023 erschienen. Darauf beinahe verschämt ein Platz-1-Abzeichen.

Ich hab nur noch wenig Geld im Portemonnaie, also bin ich wählerisch, außerdem sind die Bücherregale voll, blättere und lese zwischen den Seiten: Scott Fitzgerald, Ingeborg Bachmann, Giacometti…, es tauchen große Namen auf, nur um gleich wieder persönlich zu werden.

„Und dann, meist erst sehr spät in unserem Leben begreifen wir es: Es gibt keine Antworten, es gab sie noch nie.“ (Seite 57).

Tasche aus gewobenem Papier, Silke Janssen (€ 340)

Das Buch wandert in meine Tasche. Es ist das erste, was ich von Ferdinand von Schirach lese, dem „großartigen Erzähler“ (Spiegel) und „außergewöhnlichen Stilisten“ (New York Times), den man mit Kafka und Kleist vergleicht. Und so tauchte ich gestern ab, an meinem grauen Nachmittag auf der Insel, müde, dass mich nichts mehr am Schreibtisch halten konnte, und las bis in die späte Nacht hinein.

Ein Zauberbuch, das einen mitreißt in den Sog der unglaublichen Geschichten, die sich Menschen erzählen, wenn sie sich nicht kennen, mit der Flüchtigkeit von Bahnhof-Cafés, Zügen, Flughafen-Lounges oder Hotelbars. Geheimnisse, die man nicht bei einem Freund verwahrt wissen will, sondern bei einem Fremden, den man nie mehr wiedersieht.

„Es sind leise Erzählungen von verregneten Nachmittagen und von schwarzen Nächten. Aber diese Geschichten beschützen uns vor der Einsamkeit, den Verletzungen und der Kälte. Und am Ende sind sie das Einzige, was uns wirklich gehört.“

Schlicht und souverän werden Räume und Situationen skizziert von bestechender Wahrhaftigkeit. Da ist die junge Journalistin in Taipeh, die den Schriftsteller mitnimmt in den Xiahai-Tempel, um ihm von dem Buch mit den roten Fäden zu erzählen. Jeder Mensch sei von Geburt an mit einem anderen Menschen verbunden. Was für ein schöner Gedanke. Wahrheit und Fiktion verweben sich in diesen Momenten, als würde die Welt kurz den Atem anhalten.

Und wieder begreift man etwas sehr spät: „In Wirklichkeit ist der Andere die einzige Möglichkeit, selbst zum Mensch zu werden. Der Andere ist die Begründung für das eigene Leben.“ (Kapitel Zwanzig, Seite 133)

Alles um mich herum verschwindet, die Hunde sollten lieber allein spazierengehen. Abendessen ist unwichtig. Wieder habe ich den Schal um mich gewickelt, obwohl mir gar nicht fröstelt, es fühlt sich behüteter an. Mit dem Bleistift kringele ich einen Satz ein: „Wir können nur in der Mitte leben“, sagt ein Freund, ein brillanter Wissenschaftler. Sparsam und doch vibrierend entwickelt sich eine nächste Geschichte über wenige Seiten, die im Kopf hängen bleibt (Kapitel Zweiundzwanzig). Was bedeutet, die „Mitte leben“?

Ein Geschäft zu besitzen wie das Kapitänshaus oder die Poolstrasse, mit Menschen, die kommen und gehen, einem Dienstag Salon, wo die Freunde und Bekannten abladen, was sie beschäftigt, und aufladen, was sie tröstet? Vielleicht ist das viel mehr, als wir denken.

„Wir wissen voneinander…“

Ich könnte weiter schreiben, schwärmen und umblättern für die nächste Erzählung, zum Beispiel über Guiseppe Tomasi di Lampedusa „Der Leopard“. Es geht um die Dinge, mit denen wir zusammen leben, manchmal lieber als mit Menschen.

Es führt mich in die Gegenwart zu meiner Tochter Toska, die über das Stillleben schreibt, und natürlich lande ich auch bei meiner Kollektion …

Ferndiand von Schirach. Nachmittage, btb Verlag, München November 2023. – Ein Buch, das man eine Weile mit sich herumtragen sollte.