Drei Tage in meinem Leben, in denen ich das Zuhören neu entdeckt habe, nicht, dass ich es nicht könnte, ich liebe es zuzuhören, aber diesmal ging es um ein Zuhören von innen nach außen. Die Augen geöffnet für ein kindliches Begreifen. Es ist, als würde ich mich plötzlich von allen Seiten fühlen, wie ich dort sitze am Karfreitag und in der Osternacht, mal in der ersten, mal in der zweiten Reihe in der Kirche von St. Serverin in Keitum auf Sylt.
Ich bin wieder das Mädchen von sechs oder acht Jahren, das am liebsten ein Bein hochziehen möchte, den Fuß auf die Holzbank gestützt und das Kinn auf das Knie gelegt. Gemütlich zusammengekauert für die nächsten Stunden, um still und innig zu lauschen.
Vorne neben dem Altar dreht sich der Bogenschütze von Nele Budelmann. Die Kerzen, unser Atmen, unsere Wärme geben die Schwingungen für die sanfte Bewegung, die meinen Blick wie magisch anzieht. Als hinge dort ein Mensch am Kreuz, mal mit seiner schmalen fragilen Silhouette, mal mit seiner breiten prächtigen Front. Den Schatten als sein Gefährte zu der einen, der geschlossene Altar zu der anderen Seite.
Im Gottesdienst am Karfreitag ging es um das Gewand. Ich erinnere, wie ich vor Jahren über Tizians Noli me tangere schrieb. Maria Magdalena greift nach dem Tuch von Jesus, der zurückweicht und sich zugleich liebevoll ihr entgegenwendet. Der fließende Stoff umhüllt ihn und trennt ihn schon von dem Diesseits.
Nackt werden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben. Hier beginnt die alttestamentarische Geschichte des Kleides. Gespickt ist die Predigt von Pastorin Susanne Zingel von Wissen und Ausflügen. Sie berichtet von den Söldnern, die das Tuch von Jesus zerteilen und um das Gewand würfeln. Ein Geschäft, ein Spiel, das Leid und Tod verhöhnt.
Später liest mit schöner tragender Stimme die ältere weißhaarige Frau die Passionsgeschichte. Natürlich kenne ich den Auszug aus der Bibel, den Judas Kuss, den Verrat von Petrus, das Verhör, die Dornenkrone. Aber es gibt Lücken, ich hatte vergessen, wie oft Pontius Pilatus das Volk bittet, diesen Mann freizulassen. „Ecce Homo – Sehet, was für ein Mensch.“ Es klingt so neu, so aktuell in unserer Zeit, die die Unschuldigen und Unbeugsamen niedertrampeln will.
Wie soll ich das alles nur verarbeiten, was da auf mich einströmt? Wieder fühle ich mich wie das Kind, dem schier der Kopf platzt, weil die Welt sich ausdehnt über die Ozeane hinweg bis dahin, wo es unbegreiflich riesig wird. Von der Dunkelheit in das Licht. Wie damals, als ich klein war, möchte ich alles gleichzeitig erzählen, was sich vielschichtig nacheinander ausbreitet. Und das Gewand neben dem Altar dreht sich sanft.
Dann erwähnt die Pastorin Navid Kermani, den muslimischen Schriftsteller, der ein Villa Massimo Stipendium in Rom erhielt und dort die barocke sakrale Malerei für sich entdeckte. Er, der das Kreuz aus seiner Religion und Kultur heraus negiert, saß vor einem Altarbild von Guido Reni in der Kirche San Lorenzo in Lucina. Allein mit Jesus am Kreuz.
Guido Reni, Kreuzigung (1838 – 40) in der Kirche SanLorenzo in Lucine, Rom (aus „Atribun“)
Am liebsten wäre er nicht mehr aufgestanden, schreibt er, so berückend der Anblick und voller Segen: „Ich könnte an ein Kreuz glauben.“ Solche Momente sind mir durchaus vertraut, wenn aus der Weile eine Ewigkeit wird, die einen Bannkreis auswirft. Und plötzlich erkennt man eine andere Wahrheit.
Es kommt die Osternacht. Wieder sitze ich mit Freunden im Gottesdienst. Das Licht geht aus in St. Severin. Im Dunkeln schwebt das Gewand. Es vergehen Minuten verloren in Gedanken bis das Licht wieder hineingetragen wird und wir unsere Kerze an der Kerze des Nachbarn anzünden.
Die Glocken läuten. Verstohlen schaue ich mich um, ein Lächeln liegt auf den Gesichtern, ob sie gläubig sind oder nur hier sitzen, weil Ostern ist. Auferstehung und Neubeginn, durch die Dunkelheit in das Licht. Was für ein Weg, drei Tage lang, manchmal ein Leben.
Der Altar wird geöffnet und strahlt mit dem Gold hinter den gotischen Figuren. „Ich sehe Dich“ ist diesmal das Motiv der Predigt, und „Jesus sieht dich auch“, wie es weiter heißt. Es klingt wie eine Fortsetzung des Gewand-Themas. Gesehen-werden und sich verbunden fühlen! Wir brauchen es, um mutig unsere Stimme zu erheben.
In diesem Sinne: „Frohe Ostern“!
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