Ganz gegen meine Gewohnheit beginne ich den Tag nicht mit dem Schreiben, sondern mit dem Lesen: ein nächstes Kapitel aus Bernard Williams „Wahrheit und Wahrhaftigkeit“, meiner Sommerlektüre, die man nur langsam (sehr langsam) Kapitel für Kapitel lesen kann. Diesmal geht es um die „Genealogie“, die Herkunft. Ab und an muss ich ein Fremdwort nachschlagen, und damit wären wir gleich bei meinem „K“: „Kontingenz“ (nie gehört).
„Die Genealogie ist eine Erzählung, die ein kulturelles Phänomen zu erklären versucht, indem sie beschreibt, wie es entstanden ist, wie es hätte entstehen können oder wie man sich seine Entstehung ausmalen könnte.“ (Bernard Williams).
Es geht um „die Wahrheit sagen“! Fangen wir einmal damit an, begeben wir uns auf dünnes Eis, verirren uns in Kausalitäten und einem Gestrüpp von Variablen und Eventualitäten.
Schon sind wir beim „K“ angelang: „Kontingenz“, die Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden. Meine Spaziergängerin Madame La Petite wartet auf mich, nach dem kurzen „Moin“, berichte ich umgehend von meinen Grübeleien und morgendlichem Hirnjogging. Es bedarf eines Gespräches über 4,8 km, eine Stunde am Strand.
Petite, Absolventin eines althumanistischen Gymnasiums mit Latein und Griechisch, spricht von dem zufälligen Sammeln und breitet beim Gehen die Arme aus, als würde sie virtuell nach allem und jenem greifen. Es handelt sich um ein Wort, wie es scheint, das die Zufälligkeit impliziert.
Vor uns das Meer, das für mich blau ist und für sie gewiss auch, aber hat sie das gleiche Blau im Kopf wie ich? Und wie verbindet sich ihr Blau mit all ihren Lebenserfahrungen von Blau? Welche Möglichkeiten nutzt sie, um ihr Blau ehrlich und wahrhaftig zu beschreiben? Welche Daten auf meiner Erinnerungsspur verwende ich? Wir sind verschieden, unsere Lebensläufe sind verschieden. Wie sieht Blau im Verhältnis zum Himmelblau aus? Und ist morgen für uns das Blau immer noch das Blau von heute?
Wir sind wieder bei unserem Lieblingsthema, dass sich alles um uns herum permanent ändert und sich damit auch die Kausalitäten (dieses „K“ zählen wir nicht mit) aufheben oder zumindest verschieben. Was für den einen wahr, ist für den anderen noch lange nicht wahr, es könnte ganz anders sein.
Wir müssen uns dazu ausführlich die Geschichten (Genealogie) erzählen, uns einander nähern. Wahrheit braucht auch Kommunikation. Ein schöner Gedanke, erzählen wir uns mit Offenheit und Unwissenheit die Zufälligkeiten, was wir erfahren, erlebt oder erdacht haben (oder werden) im „Hinblick auf ein mögliches Anderssein“. Es könnte eine endlose Unterhaltung werden. I love it!
Nun noch schnell die Geschichte von der kurzen Hose und dem Blazer in weiß: Federico, der Stoff-Fabrikant in Italien war traurig, seine Mutter war verstorben, ich tröstete und übte mich in Geduld, das Material verspätete sich.
Dann gab es Corona in dem Produktionsbetrieb im Erzgebirge, anschließend war die Näherin für die Hosen im Urlaub, dann die Kollegin für die Blazer (nicht jede darf unsere aufwendigen Teile verarbeiten). Die Geschichte ist wahr, aber sie besitzt eine Summe von radikaler Kontingenz, weder notwendig noch unmöglich…
Die Modelle sind eingetroffen und eines weiß ich mit hohem Wahrheitsgehalt und wahrhaftig: Sie sehen irre gut aus, am Strand, auf der Promenade, in der Stadt, zur Party, wo immer ich bin oder zukünftig sein werde, in der Komplexität und Unberechenbarkeit meiner Umgebung.
PS: Bernard Williams wird es mir hoffentlich verzeihen, dass ich seine Begriffe ein wenig fashion-adaptiert habe. Hose und Blazer sind aufgrund der Eile mit Bildern vom Strand in den Shop gestellt, damit sie sofort bestellt werden können. Morgen dann vielleicht ein nächstes „K“, über das meine Madame La Petite gerade (mit mir) nachdenkt. Was ich dazu trage? Na wieder Hose und Blazer.
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KURZE HOSE, WEISS
€398,00€250,00 inkl. Mwst.
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