Welches Buch sollte man lesen? Folgt man der Empfehlung der Freund*innen oder steht man wie ich in einem üblichen Bahnhofskiosk in Irgendwo (in meinem Fall Karlsuhe) und überfliegt den Büchertisch? Bestseller-Aufkleber springen einem von allen Seiten ins Auge. Und dann werden die meisten Neuerscheinungen doch zu Enttäuschungen, spätestens ab dem letzten Drittel der Lektüre. Ich greife zu T.C. Boyle, dem „enfant terrible“ der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur.

Habe noch nie etwas von ihm gelesen, mein Geld reicht gerade noch aus, € 15,00, verzichte auf das Bahnhofsbrötchen. Das Buch wird eine faszinierende Entdeckung, mein Mitbringsel für den Freitag oben im Tempel von 1844.

Die Geschichte ist kurz erzählt (das Ende verrate ich nicht): Eine hübsche Studentin sitzt gelangweit vor einer Ratesendung im Fernsehen: Sag die Wahrheit. Der junge echte Professor Guy Schermerhorn berichtet von seinem sprechenden Affen. Dann taucht Sam im Bild auf, ein kleiner Schimpanse. Sie unterhalten sich in Gebärdensprache.

So der Auftakt des Romans, gerade in deutscher Übersetzung erschienen (dtv 2023).  Wir sitzen zu viert oben im Tempel, ich erzähle weiter, von Angela untersützt, die das Buch ebenfalls gelesen hat. Karma oder Zufall, auf jeden Fall wird Aimee, wie die junge Frau heißt, kurz darauf seine Assistentin, verliert ihr Herz an den Wissenschaftler und an Sam, oder besser nur an Sam, sie und er sind zwei Seelenverwandte. Geht das? „Haben Tiere überhaupt so etwas wie Geist?“ (S.198)

Ich habe Wasser für den Tee aufgesetzt, es ist warm drinnen, das Sonnenlicht fällt herein, trotzdem sind die Kerzen angezündet. Sam wurde als Baby seiner Mutter weggenommen, um wie ein Mensch aufgezogen zu werden. Die Handlung spielt in den siebziger Jahren in Kalifornien. Jane Goodall hat ihr erstes wichtiges Buch über Schimpansen gerade veröffentlicht (In the Shadow of Man, 1971).

Sam trägt Kleidung und Schuhe, lebt auf der Ranch des Professors, isst mit am Tisch, bekommt seinen Gin Tonic mit den anderen und lernt das Sprechen wie Taubstumme. Öffnet es die Türen in eine andere Welt, zu einer neuen Evolutionsstufe? Wer ist das Tier, wer der Mensch? Lernen wir voneinander, die wir in unserer DNA zu 98,9% übereinstimmen?

T.C.Boyle ist ein grandiöser Erzähler. Leichtgängig treibt er die Geschichte voran. Es gibt den eigentlichen Besitzer von Sam, einen zweiten Professor, Donald Montcrief, ebenfalls Verhaltensforscher, groß, brutal. Er hat den Schimpansen nur ausgeliehen, will ihn zurück, glaubt nicht an das Forschungsprojekt. Die Vorgänge beginnen sich merkwürdig zu verschlingen. Elegant, wie sich die Figuren von Menschen und Affen spiegeln.

Sam muss zurück zu den anderen Schimpansen in einen dreckigen Stall ohne Spielzeug, Kühlschrank, Bett. Er erkennt seine Artgenossen nicht als die seinigen. Für ihn sind sie hässliche Käfer. Aimee reist hinterher, trennt sich von Guy, den jungen Professor. Für sie gibt es nur noch Sam …

Aber wer ist Sam? „Hunde und Katzen wurden seit Tausenden von Generationen gezüchtet, um unerwünschte Eigenschaften zu eliminieren, sie waren domestizierte, emotional gezüchtete Tiere, die menschlichen Bedürfnissen dienen sollten, wogegen die Affen direkt aus der Wildnis stammten. Sie waren selbständig. Sie wollten nicht gefangen sein. Und wenn man in ihre Augen sah, sah man sich selbst.“ (Seite 74)

Mit jeder Seite entwickelt das Buch eine wachsende Komplexität. Wer in diesem Spiel ist richtig, wer ist falsch. Es geht um das Sehen, das Kommunizieren, das Begreifen: „Aber wozu ist es gut, das Sehen? Es zeigte einem die Welt, aber nicht, welchen Platz man in ihr hatte, es sei denn, man hatte einen Spiegel, und den gab es nur ZU HAUSE, bei ihr. (Seite 153). Der Roman öffnet sich weit in die Philosphie hinein.

Ich habe im Schnellgang recherchiert, Decartes, Goodall, das Buch über Charles Darwin begonnen … – T.C.Boyle macht seinen Roman „Sprich mit mir“ zu einer literarischen Verdichtung der existentiellen Fragen von Evolution und ethischer Verantwortung eines komplexen Miteinanders von Tier und Mensch.


„Er (Sam) war so menschlich und zugleich auch wieder nicht, als wäre es der Zweck seiner Existenz, die menschliche Spezies zu unterwandern.“ (Seite 267) Steht es da geschrieben, und ich weiß nicht, was es bedeuten soll.

Dieses Buch wird mich noch lange begleiten, es regt mich an, weiter zu lesen und zu forschen. Das macht große Literatur aus, und so wird der Nachmittag im Tempel wieder einmal zu einem ganz besonderen Nachmittag.