Die Besucherzahl hat sich um 400 % (!) gesteigert im Vergleich zur ersten Folge meines „Secret Salons“ oben im Tempel von 1844. „Thank God, it’s Friday!“ Wie es so schön heißt, und so versammeln wir uns zu fünft, um über das Buch von Ece Temelkuran Wenn Dein Land nicht mehr Dein Land ist zu sprechen. Es ist 16:00 Uhr, noch hell, als wir das große Tor aufstemmen, um über den Hof in eine andere Welt zu gehen, in der unmerklich das Licht entschwindet.
Die Schriftstellerin, Journalistin und Juristin Ece Temelkuran, 1973 in Izmir/Türkei geboren, seit 2016 im Exil in Zagreb lebend, verfasste die Textsammlung 2017/18, erstveröffentlicht in englisch 2019, zwei Jahre später in der deutschen Übersetzung. Ich hatte schon mehrfach darüber berichtet. Nun diskutieren wir gemeinsam die Sieben Schritte in die Diktatur, eine globale Analyse der hochgebildeten politischen Aktivistin.
Der 1. Schritt ist die BEWEGUNG, keine Partei, sondern mehr, diffus mit unscharfen Rändern, entstanden in den ländlichen Regionen, dort wo es zunächst gar nicht wahrgenommen wird. „Zum ersten Mal hörte ich den Begriff ‚wahres Volk‘ in diesem Sinne.“ (Seite 26) Die kleine Gruppe schafft sich ein eigenes Selbstbewusstsein, ein „Wir“, erfindet sich in immer neuen Opferrollen, grenzt aus, sucht nach dem starkten Mann, spricht von der „repressiven Elite“ … und wächst.
Der 2. Schritt ist die Zersetzung des Vernunftprinzips und die Banalisierung der Sprache. Wir vermeidlich Klügeren ignorieren es, halten es für dumm, machen unsere Witze über Donald Trump im White House, aber … – Wie schrieb Albert Camus: „Menschen, mit denen sich nicht vernünftig reden lässt, sollte man fürchten.“
Die Medien tun das ihre dazu, die Sucht nach grausamen Bildern steigt, neue Begriffe kursieren wie „Fake News“. Es geht um die Abschaffung des Schamgefühls, und damit sind wir bei Schritt 3: Mitleid und Scham sind nicht mehr durch eine politische Identität geschützt.
Sätze wie: „Das lassen Sie ihn nie und nimmer durchgehen“, laufen nicht nur ins Leere, sondern bewahrheiten sich in ihrer Negation: Sie lassen! Keiner glaubte an den Brexit, keiner glaubte an die Wahl von Donald Trump, die PIS Partei siegte in Polen mit einer verschindenden Mehrheit von 16% … Und Victor Orban, der grinst bockig und bekommt, was er will.
Geschickt erzeugen die Populisten Spannung, polarisieren und nutzen die Schwäche des demokratischen Systems, bemächtigen sich des Finanzwesens, demontieren die rechtlichen und politischen Grundlagen (Schritt 4) und schaffen sich Schritt 5: Bürger*innen nach ihrem Geschmack. Die Frauen erhalten eine neue Wichtigkeit, die aber lediglich das tradierte Rollenverhalten instrumentalisieren soll. Der neue Wahlspruch ist die „gemeinsame Sache“.
Und irgendwann gibt es genügend Menschen, die hämisch über das Grauen lachen (6. Schritt). Alles verwandelt sich in „Entertainment“ – wie Temelkuran schreibt, um so den Verstand gänzlich zu vergifteten (Seite 228).
Wie besonders ist unsere Unterhaltung gerade hier oben in diesen Räumen, die Glaube, Bildung, Krieg, Zerstörung und Nachkriegsjahre mit solch einer besonderen Patina versahen.
Der Nachmittag ist weit fortgeschritten, kaum kann ich meine Notizen beim Schummerlicht der Kerzen noch lesen. Der letzte und 7. Schritt: Sie erschaffen sich ihr eigenes Land. „Mit jedem Bürger, der es verlässt, verschwinden Vergangenheit und Zukunft dieses einen Menschen aus dem Narrativ, und der Bereich, in den die Gangster eindringen können, wird größer – bis es am Ende ganz ihr Land ist.“ (Seite 261)
Kathrin zeigt auf ihrem Handy den Index der Demokratien, der sich von Jahr zu Jahr verschlechtert. Nur noch 21 Ländern (insgesamte gibt es 193 Staaten) gelten als vollständige Demokratien. Hier klingt das Buch von Ece Temelkuran aus: Wo lag der Fehler?
„Unser Versagen besteht nicht darin, nicht unser Möglichstes getan zu haben; der Fehler war, nicht zu wissen, dass wir es früher hätten tun müssen, und die Zeit mit Pseudoverständnis zu verschwenden.“ (Seite 266). Verständnis und politisches Handeln müssen untrennbar zusammengehen, will man etwas verändern.
Die Autorin zitiert Samuel Beckett: „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ (Seite 267), und sie setzt auf die jungen Frauen. Wir in unserer Runde ergänzen: … und die jungen Männer. All jene um die dreißig und jünger, die nur noch lernen müssen, politisch zu denken und zu handeln. (Ece Temelkuran Wenn Dein Land nicht mehr Dein Land ist, Hoffmann&Campe, 2021)
Und das nächste Mal? Ich stelle einen der ganz Großen vor, den Schriftsteller und Reiseliteraten Bruce Chatwin mit seinen Briefen „Der Nomade“. Freitag, den 3. Februar, ca. 16:00 Uhr. Voranmeldung unter: birgit@romaetoska.de
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