Es ist das vierte Mal, dass ich das jährliche Martha Argerich Festival in der Hamburger Laeiszhalle besuche. Jedes Konzert war für sich einzigartig in seinem freien und gebändigten Überschwang der Gefühle sowie in seiner musikalischen Perfektion. Ich erinnere mich noch gut an 2019 und den „Palast der Pfingstrosen“, dessen erste Hälfte ich durchweinte bei den Klängen von sphärischer Schönheit.

2021 stoppte der Zug von Sylt nach Hamburg auf halber Strecke. Endstation Husum. Frustiert stiegen alle aus. Ich spielte dem Schaffner auf meinem Handy ein Klavierstück von Martha Argerich vor. Er lauschte ergriffen und ging daraufhin zum Lokführer, der an der Technik bastelte und die Fahrt ging weiter, immer eiliger, immer schneller. Zwischendurch hörte dieser schlichte Mann wieder in die Musik hinein, die sein Herz berührte. Mit dem zweiten Gong erreichte ich das Konzert.

Mischa Maisky, Martha Argerich Festival 2022

Im letzten Jahr war es der Weltklasse Chellist Micha Maisky, der mich erneut zu Tränen rührte. Und dieses Mal? Sergei Rachmaninow (1873 – 1943), Suite Nr. 1 und Nr.2  für zwei Klaviere steht auf dem Plan. Es soll schwierig sein, heißt es. Erwartungsvoll setze ich mich zwischen meine Freunde und versuche, mich einfach auf das Stück einzulassen.

Am Steinway Flügel der gebürtige Armenier Sergei Babayan (re), der als einer der international einflussreichsten Musiker gilt. Sein Gegenüber am anderen Flügel Daniil Trifonov (li), den das Musikmagazin Gramophone zum Künstler des Jahres 2016 kührte. Was nun folgt ist ein Himmelreich der Klänge, ein monumentales Oeuvre der Liebe, in dem sich heftige Passagen mit zarten Schmeicheleien ablösen, Glückseligkeit und Trauer sich verschlingen. Wenn die Hand über den Tasten kurz innehält, scheint es, also würde das Schicksal den Atem anhalten.

Ich schreibe intuitiv und emotional, bin keine Kennerin der Musik. Aber ich kann mit Farben sehen, und so fällt mir die Übertragbarkeit nicht schwer. „Fantaisie-Tableaux“ sollten die vier Abschnitte der Suite heißen, 1893, einen Monat nach dem Tod von Tschaikowsky, uraufgeführt: Die Gondel in der Vergänglichkeit des Abendrots, die zwitschernde Nachtigall, die trillernd die Liebesschwüre begleitet, der Wind und das Wasser, das Gurgeln und Rauschen, die Tränen der Herbstnacht und die Glocken der Wiedergeburt. So wie das Leben, baut sich diese Musik in nur scheinbar unvereinbaren Parallelen auf.

Alle haben sich erhoben in der ausverkauften Konzerthalle. Der Applaus will nicht enden. „Expect the Unexpected“. Ich möchte sparsam sein mit den Superlativen, will sie eigentlich gar nicht erwähnen. So bedanke ich mich herzlich für die Einladung und eile in die Nacht, umhüllt von dem Gehörten, bis die Sonne wieder aufgeht.

Lord Byron: „… Es ist die Stunde, wenn Liebesschwüre in jedem geflüsterten Wort melodisch zu hallen scheinen, Und die sanften Brisen und die nahen Quellen Musik zum einsamen Ohr machen.“