Wir haben es angekündigt, dieses Mal geht es beim Lunch am Montag um die klassische Kunstgeschichte mit einem wahren Meisterwerk. Fast überflüssig zu erwähnen, wer mit mir speist, aus besonderem Anlass mit vollem Titel: Dr. habil. Karen Michels. Und ich krame ebenfalls meinen Doktor phil. raus, damit wir zeigen, dass wir so engagiert über viele Semester studiert haben. Der Ort wie zuvor: der Tempel von 1844 in der Poolstrasse 12, das Essen von Hej Papa, unseren Nachbarn von gegenüber.
Ihr erstes Semester an die Universität Bonn belegte sie bei Prof. Müller-Hofstede, ein Schwergewicht des Faches, „bei dem man kaum wagte zu atmen“ (Karen), als er einen in die niederländische Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts einführte. Bei mir war es ähnlich, nur thematisch ein-zwei Jahrhunderte zuvor mit der altniederländischen Malerei. Karen entdeckte die gewaltige Macht der Bilder, die viel mehr ausdrückt als 26 Buchstaben. Ich tauchte ein in die Welt der endlosen Geschichten.
An den Wänden hängen die Malereien von Luca Lanzi und auf der Staffelei eine kleine konzeptionelle Arbeit von Peter Bücher (Leihgabe Galerie Holthoff). Ähnliche Arbeiten auf Papier gerahmt, ca. € 900.
Für uns beide gilt der Begriff der „Verrassing“ (nl. „Überraschung“) als zentrales Moment. Ein herrliches Wort, wir amüsieren uns über seine lautmalerische Qualität. Könnte ein it-Begriff werden für die nächsten Wochen. Genießen wir das „Verrassing“, los geht’s!
Die Kunstgeschichte ist keine sehr alte Wissenschaft, eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts. Für jeden „normalen“ Kunsthistoriker beginnt sie mit der Bildbeschreibung, wir machen da keine Ausnahme. Unser Künstler heute: Jan (Johannes) Vermeer van Delft (getauft 1632 – 1675). Das Gemälde „Die Briefleserin“, ein Titel, der erst später dem Werk zugefügt wurde, entstand um 1659, Öl auf Leinwand, 83 x 64,5 cm.
Wahrscheinlich, typisch für die damalige Zeit in Holland, war es keine Auftragsarbeit, sondern ein gewähltes Sujet des Künstlers für eine neue Klientel von Käufern und Sammlern, von Bürgern, Kaufleuten, Schlachtern und Bäckern, die es sich leisten konnte. Die freie Republik der Niederlande besaß keinen Adel, damit auch keine Hofmaler, und die calvinistische Kirche vergab schon lange keine Aufträge mehr, weiße Wände waren angesagt.
Knapp 100 Jahre nach seiner Entstehung kam das Bild 1746 nach Dresden, gekauft hatte es August der III., der ein wenig Nachholbedarf hatte gegenüber seinen Königskollegen in Europa. Dort hängt es noch immer in der Galerie Alter Meister. (Eine große Vermeer Ausstellung ist vom 4.6.2021 – 12.9.2021 geplant, wenn es denn so bleibt. Auf jeden Fall sind wir top-aktuell! Und auch der Dress-Code stimmt.)
Abb: Puffarm Bluse hellblau (€ 398), Prototyp Blazer blau-Haeckel (Sonderpreis € 500), Goldweste Dries van Noten, Perlenkette Yves Saint Laurent.
Soweit die Eckpunkte, die der Beschreibung vorangestellt werden. Nun arbeiten wir uns wie Detektive durch das Werk von Vordergrund zu Mittelgrund und Hintergrund, ganz wie im ersten und zweiten Semester. Karen wird sofort euphorisch, könnte „sterben“ für die so einzigartig gemalte Gardinenstange mit dem Vorhang. Er öffnet den Blick in das Zimmer und versperrt ihn zugleich. „Repoussoir“ nennt man es, ein Zurückschubsen des Betrachters, nur um gleich drauf den Raum noch tiefer erscheinen zu lassen.
Auf dem Tisch liegt halb ordentlich, halb unordentlich drapiert ein weicher Orientteppich, Zeichen für den Reichtum des Haushaltes. Holland war zu dieser Zeit die wirtschaftsstärkste Region der Welt. Dazu passt auch die dünne Porzellanschale, die man so nicht in Delft herstellen konnte. China-Import und sicherlich sündhaft teuer. Darauf die Früchte, die, soviel wissen Miss Marple & Co., immer ein Symbol für das Paradies und den Sündenfall sind.
Abb: Schale Martha Kazzer (Bauhaus), Keramik um 1930 (€ 650).
Spannung ist angesagt, denn die Dame, die dort im Mittelgrund den Brief liest, ist vielleicht gar nicht so unschuldig, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte. Ihre Haare sind streng nach hinten geknotet, aber ein paar Strähnen hängen nachlässig zu den Seiten herab, ihre Wangen sind leicht gerötet und der Mund ein wenig geöffnet. Ist es ein Brief des Ehemannes aus der Ferne, der wie so viele Niederländer über Monate und manchmal sogar Jahre verreist war? Wir sind im 17. Jahrhundert, da konnte es schon vorkommen, dass man nicht wieder zurückkehrte.
Oder ist es gar der Brief von einem Liebhaber, mit dem man sich die Zeit des Alleinseins vertrieb? Lassen wir es offen, wichtig ist allerdings, dass die Frauen in Holland ungewöhnlich früh lesen und schreiben lernten. Die „Erotik des Brieflesens“ (Stefan Trinks, FAZ) hatte einen erfreulichen Nebeneffekt.
Einzigartig, wie der Künstler ihr Abbild sich in der Fensterscheibe spiegeln lässt, wie das rote Tuch den Ausblick nach draußen freigibt, so dass die junge Frau nur noch fester die geliebten Zeilen hält. Wir denken wieder an unsere ersten Semester der Kunstgeschichte mit den schier endlosen Erzählsträngen, die sich in den Bildern dieser Zeit wiederfinden. Vermeer hatte sich auf die Interieurs spezialisiert, aber er bleibt gleichzeitig ein genialer Chronist seiner Epoche.
Sind wir durch? Nur noch der schlichte Hintergrund, eine leere Wand mit unruhigen Schatten. Aber nun wird es wirklich aufregend. Ich lausche, bin Watson, der notiert, während mein Gegenüber Sherlock einen Trumpf nach dem anderen ausspielt mit Vergleichsbeispielen aus dem Werk von Vermeer.
Noch eine Briefleserin, schwanger diesmal, im Hintergrund keine kahle Wand, sondern eine Karte der Welt als Hinweis auf die Handelsmacht Holland. Eine Postkarte von diesem Motiv hing immer bei mir im Atelier, das Original befindet sich in Rijksmuseum in Amsterdam.
Es folgt die „Schlafende Magd“, auch hier im Hintergrund ein Bild im Bild. Jedes Detail auf dem Tisch erzählt: ein leeres Weinglas, die Geste der Acedia, der Trägheit, wieder die Früchte … Ihr könnte Euch selbst daran versuchen, der Tag wird nicht langweilig werden.
Wir sind beim letzten Gemälde, die Indizienkette wird erdrückend, wieder eine Frau mit dem Motiv von Cupido, Amor, an der Wand im Hintergrund. Seinen Pfeil hat er abgeschossen, seine Karte, die rote?, hält er in der Hand erhoben.
Selbst beim „Tatort“ hätte man jetzt Verdacht geschöpft: Vermeer malte keine „leeren“ Hintergründe. Und so nahmen sich die Restoratoren aus Dresden das Werk der Briefleserin noch einmal vor und siehe da, Stück für Stück legten sie den Liebesgott frei. Was für eine „verrassing!“ Die Übermalung lag auf dem Firnis, war also nicht von Vermeer selbst vorgenommen, muss jedoch vor dem Ankauf 1746 geschehen sein.
Mädchen, Mädchen, was liest Du da für einen Brief und wie wirst Du damit umgehen? Sie darf entscheiden, gut oder böse, tugendhaft oder verführerisch? Das Schicksal gilt in dieser Zeit nicht mehr als gottgegeben. Und so haben wir nicht nur eine komplexe Bildgeschichte vor uns, sondern zugleich eine Kulturgeschichte, hochaktuell bis heute.
Abb: Cashmere Plaid mauve-grau (€ 498)
Verzückt haben wir die Zeit verstreichen lassen bei Quiche und Apfeltorte von Hej Papa, die Fenstern sind weit geöffnet an diesem „Blue Monday“, dem angeblich traurigsten Tag im Jahr. Und nächste Woche? Dann ist sind es die Brüder van Eyck und die Erklärung, warum ich nicht Astrophysikerin wurde (Scherz).
„Kennst du einen Maler namens Vermeer? Er hat die würdevolle und schöne Figur einer schwangeren Holländerin gemalt. Die Farbenskala besteht aus Blau, Zitronengelb, Perlgrau und Weiß. Es ist wahr, in den wenigen Bildern, die wir von ihm haben, kann man alle Farben der Palette finden; aber es ist eben doch charakteristisch für ihn, daß er Zitronengelb, ein stumpfes Blau und ein helles Grau kombiniert, so wie Velasquez Schwarz, Weiß, Grau und Rosa zu einer Harmonie bindet.“ (Vincent van Gogh an Émile Bernard, 1885 über die Schwangere Briefleserin)
One Comment