Obwohl ich das Buch noch nicht ganz durchgelesen habe, beginne ich mit seiner Vorstellung: Victor Hugo, Les Travailleurs de la Mer, 1866 erschienen, 2017 vom Mare Verlag neu übersetzt: „Die Arbeiter des Meeres“. Ein Jahrhundertroman. Achtzig Seiten fehlen mir noch bis zum Ende, ich hoffe inständig, dass es mit der Liebe klappt, hat die Hauptfigur Gilliatt schon so viele Herausforderungen bis hierhin überstanden. Aber ich fürchte …
Atemlos las ich gestern bis tief in die Nacht, obwohl ich heute morgen wieder um kurz nach vier Uhr aufstehen musste. Der Sturm, der sich zu einem Orkan apokalypischen Ausmaßes ausweitetet. Ein Wrack zwischen den Douvresfelsen im Ärmelkanal eingeklemmt. Eine Schaluppe, mit der der Held die intakte Maschine retten will, um darüber die Dame seines Herzes zu erobern …
Ich versuche gar nicht erst der Reihe nach zu erzählen, sondern hänge wie der junge Gilliatt fest in den Fangarmen einer Riesenkrake. Und während ich am eigenen Körper die schleimige Umklammerung spüre, die Saugnämpfe, die sich in die Haut bohren, und die monströsen Augen, die ihr Opfer fixieren, lässt sich der Autor alle Zeit der Welt, um mit assoziativen Wortfetzen das Ungehörer durch die Geschichte hinweg zu beschreiben.
Riesenkrake aus Jules Vernes „2000 Meilen unter dem Meer“
Während ich diese Sätze schreibe, stockt mir immer noch das Blut in den Adern, sehe ich die nächtliche Spinne, die sich über mir und dem Buch von der Decke abseilte. Ich hätte kreischen können, kickte sie mit dem Buchdeckel weg, als wäre sie einer der Tentakel, denen der modrige Schlund des Todes folgt.
„Les Travailleurs de la Mer“ ist der dritte große Roman von Victor Hugo (1882 – 1885), einem der oder dem größten französischen Literaten. Die meisten kennen von ihm „Les Miserables“, vielleicht auch noch „Notre-Dame de Paris“, dann hätten wir sie auch schon. Die anderen habe ich nicht gelesen, aber dieser erinnert in seinen Dimensionen an die Göttliche Kommödie von Dante Alighieri.
Wieder ist es ein schwieriges Buch, das ich hier empfehle, wenngleich ganz anders als meine Sommerlektüre: Bernard Williams „Wahrhaftigkeit und Wahrheit“.
Oft bin ich darüber eingeschlafen, wieder aufgewacht, habe weitergelesen, mich durch die endlosen Reihungen von Adjektiven und Verben gequält, wie sie wolkenbruchartig auf einen niederprasseln, das Meer beschreiben, das milchige drohende Sonnenlicht, die Entfessung der Natur ankündigen, die Wolken heraufbeschwören, die sich zu Türmen himmelwärts aufbäumen …
Die Klippe wird zum immer wiederkehrenden Motiv. Der Sturm erhält geographische Attribute, es gibt den heißen Sturm, den Polarsturm, die eisernen Wirbelwinde, den verzweigten Nordost …. Alles wird groß und mächtig, gewaltig und erschütternd.
Wir sind solche Sprache nicht mehr gewohnt, uns drängt es zur Handlung, zu Action, der Love Story dahinter. Gerade darum ist dieses Buch so wichtig, um uns wieder ein Vokabular anzueignen, mit dem wir die Facetten des Lebens und was uns umgibt denken lernen.
Zudem ist alles symbolisch aufgeladen: der Mensch und die Natur, die Wildheit, die grausame Zügellosigkeit, das Unausweichliche, das Chaos, das der Sonderling (wer sonst) Gilliatt versucht zu bändigen, in eine Ordnung zu bringen. Er besitzt die Gabe, in das Meer hineinzuhorchen, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die von der Gemeinschaft als Hexerei abgeurteilt werden. Ist er der Retter oder wird er untergehen? Es ist 00:24 Uhr als die Vernunft mit gebot, das Licht auszuknipsen.
Victor Hugo schrieb diesen Roman auf Guernsey, wohin er seit 1851 aus politischen Gründen verbannt war. Er beeinflusste nachfolgende Schriftsteller und Philosophen wie Rimbaud, Jules Vernes, Proust und Satre.
PS: Wer möchte, bekommt bei der nächsten Bestellung die Ausgabe „Die Arbeiter des Meeres“ des Mare Verlags samt Schuber von mir geschenkt.
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