Es ist Mittwoch, Karen und ich haben wieder Hunger. Der Kühlschrank ist leer, keine Überraschung, aber ich habe vorgesorgt mit Quiche und Kuchen, frisch gebacken von nebenan. Wir sind zum Mittagessen verabredet, und wie schon die Male zuvor ist die köstlichste Mahlzeit das Sahnestückchen aus Kunst und Kultur.
Diesmal gaben die Mauern des halbzerstörten Tempels in der Poolstrasse 12 in Hamburg den Anstoß für das Gespräch. Die Wände erzählen ihre Geschichten, aber mehr als das, sie sind übersät mit Flecken und Klecksen, die die Zeit geschaffen hat nach Gesetzen, die wir nicht kennen.
Nennen wir es Geschmack, wenn jemand in der Vergangenheit eine rosa Farbe wählte, nennen wir es Bedürfnis, wenn ein Loch gestopft, eine Leitung verputzt werden musste. Was es ist auch ist, eines ist es gewiss nicht, eine künstlich geschaffene Ästhetik. Wir sprechen von der Freiheit der Nicht-Kunst: Dr. Karen Michels, promovierte und habilitiere Kunsthistorikerin, und ich, ebenfalls promoviert, aber mittlerweile ins Lager der kreativen Modemacher gewechselt.
Schnell ist der Bogen geschlagen zu Leonardo da Vinci (1452 – 1519) und seiner Anweisung zur Malerei (Trattato della Pittura), einer Sammlung von Schriften, die postum 1651 als Buch erschien. Dort findet sich das berühmte Zitat über den Fleck:
„Wenn Du auf buntgefleckte Mauern oder buntgemischte Steine blickst, so kannst du dort, falls du irgendeine Gegend zu erfinden hast, Bilder von allerlei Landschaften sehen, die mit Bergen, Flüssen, Felsen, Bäumen, weiten Ebenen, Tälern und Hügeln in mannigfacher Weise ausgestaltet sind. Du kannst dort auch allerlei Schlachten und Gestalten mit lebhaften Gebärden erblicken … “ (Leonardo da Vinci)
Abb: Leonardo da Vinci, Sintflut über der Stadt, 1517/18
Welche absolute Revolution! Leonardo feiert die Freiheit der Phantasie und eine Abstraktion des Sehens! „Mehr braucht man doch nicht“, so Karen und schaut mich auf ihre typische Weise an, die sowohl die absolute Begeisterung in sich trägt, wie den Widerspruch ausklammert. Nein, braucht man nicht! Ich stimme ihr zu. Sie lacht. Wäre Leonardo in diesen Räumen hier oben eingesperrt, so würde ein riesiges Werk in kürzester Zeit entstehen. Der Fleck ist das Mittel zur Bilderfindung.
Leonardo war ja nicht irgendwer. Seine Schriften wurden gelesen und weiter erzählt. Der Fleck geht ein in die Geschichte der nachfolgenden Künstler als Ausgang für Phantasie, die sich verselbständigt zu einer neuen offenen Form, die den Betrachter mit einbezieht.
Abb: Rembrandt, Landschaft mit Turm, 1651
Der erste Entwurf, die Prima Idea, erhält den Status eines Werkes, die Bewegung von Pinsels und Stift wird zur Handschrift von Körper und Geist. Wo die Details noch fehlen, gleicht die Skizze einem Fleck, der „macchia“ (1550), so Georgio Vasari, der große Chronist der Renaissance.
„Wenn wir den Fleck endlich mal als etwas Phantasievolles betrachten könnten, statt als ein Ärgernis, wir hätten gewonnen“, so Karen, und wieder pflichte ich ihr bei. Wenn ich mit Hilfe eines Fleckes die Phantasie des Sehens und Denkens befreien kann, dann müsste es möglich sein, alles zu denken. So hat es Leonardo da Vinci getan, ausgehend von seinem „macchia“ (Farbfleck).
Der Weg führt unweigerlich in die Abstraktion von hellen und dunklen Flecken hin zu Karen’s letzten kleinen Trumpf: Victor Hugo und seine „Lost Pictures“, seine inneren Bildern, entstanden im Exil auf der Guernsey 1855. Ausgehend von … einem Fleck an der Wand.
Wieder füllen sich meine Seiten mit Notizen, dabei dränge ich weiter voran in das 20. Jahrhundert mit Jackson Pollock. Erneut sind es Bewegung und Geist, begleitet von Jazz-Musik, die die Hand des Künstler führen von dem Fleck, dem Drip, zu dem großen, erhabenen Werk, in dem der Maler mit dem Zufall spielt, den es nach Sigmund Freund nicht gibt. Es entsteht ein modernes, abstraktes „Portait“ des Psyche.
Überflüssig zu sagen, das wir beide schon lange nicht mehr am Esstisch sitzen. Wir wandern entlang der Wände mit ihre endlosen Flecken und Unebenheiten und fühlen uns befreit von einer Stringenz des Denkens, die kein Sujet mehr kennt und keine vorgegebene Komposition.
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