Was hat Ernst Haeckel (1834 – 1919) mit dem Philosophen Baruch de Spinoza (1632– 1677) gemeinsam? Es sollte ein Vortrag der Kunsthistorikerin Dr. Karen Michels werden, geplant für Mitte November in Hamburg. Aber das geht ja nun nicht. Also haben wir uns beide gestern spontan zum Mittagessen im Tempel in der Poolstrasse 12 verabredet.

Abb: Dr. Karen Michels mit Galerist Thomas Holthoff, der kurz vor dem Gespräch vorbei kam, um seine Freundin zu begrüßen. Wir schicken ihn nach Hause. Nur 2-Personen-Haushalt zum Essen erlaubt.

Salat und Quiche kommen von dem kleinen Café von gegenüber, Take away. Das Wasser aus der Leitung. Die Bücher liegen illustrativ dazwischen. Die Kerzen sind an.

Wir haben noch nicht mal angefangen mit unserem Dialog über die beiden großen Denker, da ist die neue Talk-Serie schon gefunden: „Karen und Birgit brauchen etwas zu Essen“, so der Titel unter dem wir beiden notorischen Leere-Kühlschrank-Junkies uns für die nächsten Wochen immer montags verabreden. Herrlich, ich zahle das Menü und erhalte dafür eine Sternstunde der Kunstgeschichte und Philosophie.

Wo starten wir? Bei Panofsky (1892 – 1969), wo sonst. Karen’s Held, meiner übrigens auch. Der Einstein der Kunstgeschichte. Sie hat über ihn und die jüdischen Kunstwissenschaften habilitiert. Ich lernte durch ihn das (ikonographische) Sehen.

Karen beginnt zu erzählen: Panofsky beendete seine Briefe immer mit einer besonderen Grußformel, wie „Liebe Grüße von Haus zu Haus “ … Und dann tauchte da plötzlich etwas anderes auf: „Sub specie aeternitatis“ (Unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit), Gruß Panofsky.

Ich bekomme Gänsehaut, wie schön ist das, eine Formel über die Grenzen von Zeit hinaus. Man könnte damit Liebesbriefe beenden oder Freundschaften besiegeln oder einfach nur einen wunderbaren geistigen Austausch starten: sub specie aeternitatis.

Eine brillante Erzählerin wie Karen zieht geduldig ihre konzentrischen Kreise. Haeckel muss warten. Von Ernst Panofsky führt die Spur zu Spinoza, denn er ist es, den er am Ende seiner Korrespondenz regelmäßig zitiert. Für Spinoza charakterisiert dieser Satz die Philosophie, mit deren Hilfe er von dem individuellen Erscheinungsbild zum eigentlichen Wesen kommt und damit zu „Gott oder Natur“. Er findet in „der Gestalt die ewige Substanz“. Und schon sind wir nicht weit von Haeckel entfernt …

Zwischendurch muss mir Karen allerdings schnell erzählen, warum ihre Zwiebeln und der Knoblauch im Kühlschrank immer vergammeln. Sie gehören dort nicht hinein, sondern in so ein Holzkästchen aus den 60er Jahren, wie es in der Küche hängt. Ich schaue mich um, stimmt. Keine Angst, wir behalten die Fäden der Erzählung in der Hand.

Es geht wieder zurück zu Panofsky, der als junger Mann einen seiner ersten Vorträge in Berlin an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentum hielt, damit wollte er seiner Schwiegermutter gefallen. Sein Thema war Rembrandt und das Judentum. Und schon sind wir mit einem großen Sprung im Amsterdam des 17. Jahrhunderts. Die berühmten Zeitgenossen in einer Stadt, zur gleichen Zeit, das war mir noch nie so bewusst. Die Kunstgeschichte und die Philosophie rücken zusammen.

Die Aula der Hochschule war gerammelt voll als Panofsky ausführlich beschreibt, wie liebevoll, detailreich und virtuos Rembrandt sich dem typisch Jüdischem widmete, die fragenden Augen, die Intensität des Ausdrucks oder die Geste der Hände, die feingliedrig über den Büchern liegen oder das Gesicht stützen.

Mit Pinsel und Stift erfasst der Künstler die individuelle Seele und sucht dahinter das Metaphysische als etwas von Gott Gegebenes. Im Kleinen das Große finden.

Der Nicht-Jude Rembrandt hat die Welt als „sub specie aeternitatis“ gesehen, mit dem Aspekt der Ewigkeit. Und genauso hat der Jude Spinoza die „individuelle Seele als eine Erscheinungsform des Göttlichen“ verstanden. Panofsky schließt seinen Vortrag damals mit den Worten:

Wenn es überhaupt möglich ist, die gedankliche Sprache der Philosophie mit der anschaulichen Sprache der Kunst zu vergleichen, so hat der größte germanisch (sic!) Maler am Ende seiner Laufbahn die Welt so dargestellt wie der größte jüdische Philosoph sie gedacht hat.“ (aus: Karen Michels. Sokrates in Pöseldorf. Erwin Panofsky Hamburger Jahre, Seite 44).

Vergessen sind die Zwiebeln, die leeren Kühlschränke. Wir essen Salat und Quiche und selbst das ist nebensächlich. Es gibt eine Form des Denkens, in dem die Unterschiede nicht wichtig sind, aber man Unterschiede leben darf. Wie aktuell ist das in unserer Zeit. Heute! – Und passt es nicht wunderbar in diese erste Reformsynagoge, wo es um Versöhnung ging, zwischen Männern und Frauen, Juden und Christen. Ich bin fasziniert.

Wir wechseln kurz den Platz. Ich eile runter für Espresso und Kuchen von gegenüber. Karen und ich setzen uns auf die breite Fensterbank mit Blick auf die Apsis Ruine. Zwischen uns zwei Meter Abstand, innerlich fühlen wir uns vertrauter denn je, denn es verbindet uns eine ähnliche Begeisterung für die Kunst und das Denken.

Aber noch einmal zurück zu Spinoza, diesem irren Typen, der sich als junger Mann gleich mit allen anlegte und kurz darauf mit einem Bann aus der jüdischen Gemeinde von Amsterdam ausgeschlossen wurde. Wie füllst Du Deinen Magen, wenn Du so ein „Ausnahme-Brain“ bist, Dich aber keiner will? Hätte er einen Kühlschrank gehabt, dann wäre er sicherlich so leer wie unserer. Immer wieder ihre Querverweise ins Jetzt, wie ich das liebe.

Abb: Kühlschrank von Dr. Karen Michels. Ähnelt verblüffend dem meinen.

In seiner Verteidigungsschrift riskiert Spinoza alles und ist dabei mutig und irrsinnig modern: Was ist Gott? Und was ist ethisches Handeln? Wie gehen die Dinge in unserer Wahrnehmung zusammen? Ist doch kein Wunder, dass die jüdische Gemeinde nicht vor Begeisterung applaudierte.

Spinoza wird Linsenschleifer, hängt Tag für Tag über den kleinen Glasscheiben. Wer fängt da nicht an, über das verzerrte Sehen zu philosophieren. Es geht um die Wahrnehmung und die Suche nach dem Göttlichen in der Vielfalt.

Meine Schrift ist kaum mehr zu lesen, eilig notiere ich, was Karen mir entgegenschleudert. Wir sind keine Philosophen, aber wir spüren beide die unbändige Lust, die Dinge in neuen Zusammenhängen zu sehen. Ich denke an Haeckel, aber der muss warten.

Sie unterbricht mich wieder. „Weißt Du eigentlich, dass ich Konservendosen in meinen Kühlschrank stelle, damit da überhaupt was drin ist.“ Ich muss lachen. Vom Kühlschrank über das Bärlauch-Pesto von Budni wieder zu Spinoza zu kommen ist eine Meisterleistung, die nur jemand schaffen kann, der mit Geschichte und Wissen lebt, für den das Staunen des 17. Jahrhunderts zu einem Staunen des 19. Jahrhunderts wird bis in unsere Zeit, hier mit uns beiden auf der Fensterbank. Für Karen alles selbstverständlich. Fortsetzung folgt, denn schließlich haben wir nächsten Montag wieder Hunger.