Spontan entstand das Titelbild: meine beiden Töchter Roma (29) und Toska (26) sowie ich im Bett oben im Tempel von 1844, der ersten Reformsynagoge der Welt, eine Halbruine, versteckt im Hinterhof in der Hamburger Neustadt. Die Heizung funktioniert nicht, wir wärmen uns gegenseitig und … lesen! Es ist kurz vor Mitternacht.

Zwei Tage später, mittlerweile im Kapitänshaus in Kampen auf Sylt, Ortswechsel in den Luxus, frage ich die Beiden: „Wie lest ihr eigentlich? Ich meine, wie sind Eure Lesegewohnheiten?“ – „Jeden Abend, egal, wie spät es ist“, so die Antwort.

Toska liest drei Bücher gleichzeitig, ein Philosophie-Buch, ein Roman, ein Gedichtband. Letzteres spricht sie laut, liest auf polnisch, übt den Klang der Sprache. Sie ist eine Schnell-Leserin.

Lektüre: Herbert Zbigniew, Étude de l’objet, 1971

Gefällt ihr ein Autor, besorgt sie sich weitere Bücher von ihm. Meist sind es dann die unbekannteren Werke, die ihr gefallen.

Und Roma? Sie lernte erst spät lesen. Ich war als Mutter schon verzweifelt und dachte, sie schafft das nie. Sie liest immer noch langsam, dafür ist alles gespeichert. Sie weiß, was auf welcher Seite steht, kann aus dem Kopf ganze Passagen zitieren.

Lektüre: Bernard Werber, Les Fourmis (Die Ameisen), 1991

Roma liest meist vier Bücher parallel, weil alles so langsam geht, wie sie meint. Die Lektüre ist auf englisch, auf deutsch oder auf französisch. Fast immer sind es die Klassiker, die sie wieder und wieder liest, ohne das ihr langweilig wird.

Dann fragen mich die Töchter nach meinem Leseverhalten. Kurz muss ich lachen als chaotische Sammlerin. Mir fallen die Bücher zu, die Titel werden mir eingeflüstert, und dann lese ich kreuz-und-quer, Neuerscheinungen, Klassiker, Sachbücher, leichte Kost, schwere Kost. Ich lese ebenfalls mehrere Bücher neben- und übereinander, die sich um meinen Schreibtisch oder mein Bett herum stapeln.

Jean-Paul Sartre, Die Wörter, 1964 erschienen autobiographisches Erzählung.

Manchmal breche ich bei Seite 60 ab, weil sich ein anderes Buch dazwischen geschoben hat, das mich mehr fesselt. Ich lese schnell, markiere Abschnitte und Wörter mit dem Bleistift, und vergesse den Inhalt wieder, oder er lauert in meinen geistigen Untiefen, bis er mit einem zugeflogenen Stichwort wieder ans Tageslicht befördert wird.

Warum wir lesen? Ich antworte für mich persönlich. Es eröffnet mir Welten, die mir unbekannt waren, beflügelt meine Fantasie, verfeinert meine Sprache, bereichert meinen Wortschatz, hilft mir die Dinge von einer anderen Seite zu denken. Ich spüre die Liebe, den Schmerz, sehe ferne Länder und begreife etwas über die menschliche Seele. Ich lerne mich in Büchern selbst entdecken.

Sind Frauen, die lesen, gefährlich? Wie der Titel des Bestsellers von Stefan Bollmann (Elisabeth Sandmann Verlag, 2013) heißt. Gewiss, denn Lesen ist Wissen, und Wissen ist Macht. Das Denken ist für viele unbequem, besonders, wenn es von Frauen kommt. Leider gilt das bis heute.

Aber wir brauchen uns Frauen, die wir lesen und darüber klüger werden, die wir den Fragen unserer Zeit auf den Grund gehen, um zu verändern oder zu bewahren. Es ist ein wertvolles Gut und eine historische Verpflichtung: Frauen, die lesen.