Wieder so ein Morgen am Schreibtisch mit dem Meer um die Ecke und tausend Gedanken, die mir gleichzeitig durch den Kopf schießen: die Nachrichten des Tages, ein Lied aus den Achtzigern…. Telefoniere kurz mit Roma, die drei Stunden weiter in einer anderen Zeit lebt, schreibe das Ende eines Artikels über das Absurde oder wie man aus verfahrenen Situationen herausspringt, erinnere mich an die Briefe von Max Frisch und Ingeborg Bachmann. Letztere sind soeben als „epochale Korrespondenz“ erschienen, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 1038 Seiten, davon die Hälfte als Kommentierung.

Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, Samstag, den 19.11.2022

Ich hatte den Beitrag gestern im Zug gelesen, beide Schriftsteller waren knapp fünf Jahre ein Paar oder auch nicht, und dann doch wieder. Briefe entstehen aus der Distanz, wir als Nachwelt haben Glück, dass sie die meiste Zeit nicht zusammenlebten. Schon nach der ersten Nacht in Paris, schreibt Max Frisch beinahe prophetisch über das, was kommen wird: „Was ist los? Ich warte und bange. Kein Zeichen. Du willst, dass wir verschwunden sind füreinander.“

Noch bin ich mir nicht sicher, ob ich mir das Buch kaufen werde, mich schrecken die Anmerkungen, die endlos langen Erklärungen der Literaturwissenschaftler, sie erinnern mich an mein Studium, als ich unruhig auf dem Stuhl herumrutschte, weil ich die Deutung schon wusste, besser vielleicht, auf jeden Fall wollte ich die Antworten selbst und für mich herausfinden. So mache ich mich auch heute auf die Suche und schreibe ein Gedicht von Ingeborg Bachmann auf ein Blatt Papier: Erklär mir, Liebe!

Dann stopfe ich den Zettel in eine Wasserflasche und nehme sie mit an den Strand, meine Post für das Meer: „Wasser weiß zu reden, // die Welle nimmt die Welle an der Hand, … “ – Während ich über die Dünen gehe und Richtung Horizont blicke, grübele ich: Warum ist die Überschrift mit einem Komma versehen, ich hatte es bei der Abschrift zunächst vergessen: Erklär mir, Liebe!

Ein wenig verrückt habe ich mich angezogen: das Brokatkleid von Prada, als käme ich noch von der Nacht, das weiße Men’s Shirt, das mich immer an einen Freund erinnert, der nie in seinem eigenen Bett landete (alle Frauen liebten ihn) und für den ich morgens regelmäßig ein neues weißes Hemd besorgen musste. Die Kite-Weste und Ugg-Boots. Es ist empfindlich kalt.

Und dann werfe ich sie ins Meer, die Flasche und die Zeilen mit Tinte geschrieben. Es ist ein Gedicht an die Liebe adressiert:

Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind,
dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan,
dein Herz hat anderswo zu tun,
dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,
das Zittergras im Land nimmt überhand,
Sternblumen bläst der Sommer an und aus,
von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,
du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,
was soll dir noch geschehen –

Erklär mir, Liebe!

„Wir wären ein Unheil füreinander. Aber auch so ist kein Heil …“ Wieder ist es Max Frisch, der notiert, der strategische Schreiber, der Ältere von beiden, der sich intellektuell unterlegen fühlte, ihr Genie erkannte.

„Sie liebt nicht mich, sowenig wie einen anderen, sondern sie liebt die Liebe und sich selbst als Liebende“, schreibt er an anderer Stelle. So würde das Gedicht doch Sinn machen: „Erklär mir, Liebe!“ mit diesem Komma in der Mitte.

Vielleicht kaufe ich das Buch doch. Die Briefe werden gewiss mein Denken bereichern, wie, wo und ob sich Mann und Frau in ihren Extremen, in ihrer Sensibilität und Zerbrechlichkeit auf Augenhöhe begegnen und wieder verlieren.