Der Titel hätte auch lauten können: “Mut zum Analogen” oder “Antropozän anders gedacht” … – Naja, vielleicht ein wenig schwergewichtig. Wie wäre es, ganz schlicht und einfach sein Herz an das alte Bilder-Lexikon zu vergeben?! Mein neues Kollektionsthema: Encyclopedia. Auf Ebay konnte ich Meyer’s Konversationslexikon von 1895 erstehen. Es ist die 5. Ausgabe, 19 Bände mit Goldprägung auf dem Ledereinband. Sie stapeln sich nun in der Poolstrasse und verströmen eine Aura von geballtem illustrierten Wissen. Den Band A – Aslang habe ich mir unter den Arm geklemmt mit auf die Insel.


Ich blättere vorsichtig und neugierig, Seiten für Seiten … “A“, “Ä“, “Ach, Fluß in Baden”, “Abusus (lat.), Mißbrauch”, “Adelheid (altdeutsch: strahlend an Geschlecht), weiblicher Name”, “Agrigentum, eine der größten und herrlichsten Städte des Altertums, auf der Südküste Siziliens” …


Bei “Algen” gibt es eine wunderschöne Farbtafel, ich verharre ein wenig und streiche mit der Hand über das Papier. Ein paar Seiten weiter die nächste Doppelseite: “Alpenpflanzen“, märchenhaft verwunschen die Abbildung, sorgfältig mit einem eingelegten Pergamentpapier dazwischen, damit die Flächen nicht verkleben.

Ich schlendere blätternd weiter bis zu den “Apfelsorten“. Wäre das nicht eine schöne Vorlage für einen Druck auf Seidenchiffon? Schon schicke ich Freund Aldo am Comper See ein Foto und sehe bildlich vor mir, wie sich Weiße Winterkalville, Prinzenapfel, Goldgulderling und Graue französische Renette charmant um den Hals legen.

Draußen gewittert es, heftiger Regen, der Spaziergang ans Meer muss ausfallen. Erst als sich das Wetter ein wenig beruhigt, breche ich auf Richtung Watt. An meiner Seite Hund Bonnie. Ich erzähle ihr von meinem Lexikon und was sich alles hinter dem Buchstaben A verbirgt.

“Komm, wir suchen ein paar Apfelbäume!” Begeistert trabt sie neben mir her, als hätte sie verstanden, worum es geht: eine analoge Schatzsuche. Schon ist der Erste gefunden, den ich sonst auf dem Weg immer übersehen hatte. Und dahinter der nächste und der übernächste. Vergessen sind Sturm und Schauerböen. Wieder einmal lerne ich neu zu sehen, und beobachte die Regentropfen wie sie an den Früchten kleben.

Die Sonnenstrahlen, die sich zwischen den düsteren Wolken hindurchschummeln, modellieren wie ein Meister der Malerei die Äpfel in ihrer prallen Fülle. Wie sie wohl schmecken? Gewiss ganz anders als die abgepackten “Pink Ladies” aus dem Supermarktregal.

Genau darum geht es in meiner Kollektion, die sich gerade skizzenhaft entwickelt. Wir müssen wieder lernen selbst zu stöbern, zu lesen, uns von Buchstaben zu Buchstaben hangeln, den Dingen nachspüren, unseren Blick schärfen. Und siehe da, es wird sich eine schier endlose Reihung von Wundern auftun, die kein KI brauchen.

In der Früh las ich den Essay von Hilmar Klute in der Süddeutschen Zeitung: “Die Verteidigung des Menschseins”. Er wirkt beinahe wie die Blaupause für meine kreative Recherche. “Das Antropozän”, wie er schreibt, “ist das Zeitalter des Verlustes, eine Epoche des Abdankens und der Wehmut, und noch nie haben wir uns in der Welt dermaßen ausgeliefert gefühlt wie heute im Jahr 2025.”


Ha! Möchte ich fast freudig rufen. Ich kann dem etwas entgegensetzen mit meiner Enzyklopädie und den Farbtafeln von Äpfelsorten & Co. Es fühlt sich an, als würde ich ein fitzelkleines Stück vom Glück am Saume packen, die Bilder aus dem Buch mit denen vom Spaziergang verbinden, ihre Einzigartigkeit staunend verinnerlichen. “Die alten Kulturtechniken müssen eben wieder trainiert werden… ” (Klute) – Siehe Wälzen im Lexikon.

“Diese Zeit fordert von uns, eine sehr alte und probate menschliche Eigenschaft zu mobilisieren, nämlich Mut”, heißt es weiter bei Klute, “sich innerlich immun zu machen gegen die ständige Befeuerung mit alarmistischem Material, wie es soziale Medien und filterlose Nachrichtendienste rund um die Uhr liefern.” – Verstehe! Encyclopedia! Mein neues Resilienz-Heilmittel.

Zurück am Schreibtisch gehe ich zum wiederholten Male genussvoll zwischen den Seiten verloren, erprobe mein Erinnerungsvermögen: “Appretur“, “Aquädukt“, “Arachne – Spinne” … Bis ich bei der “Arktischen Fauna” anlande, die auch Motiv für einen Stoff wird. Wäre ich reich, gäbe es das ganze Meyer’s Konversationslexikon auf der Haut zu tragen. Jeden Tag ein neues Outfit von A – Z!

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PUFFARM BLUSE, SCHWARZ
€398,00 inkl. Mwst. -
RUDBECKIA LEUCHTE KLEIN, GELB-HELLBLAU
€1.800,00 inkl. Mwst.




Das ist wirklich ein wunderschöner wertvoller Schatz, den Du da entdeckt hast, liebe Birgit! Herzlichen Glückwunsch!
Gerade in unserer hektischen unsicheren digitalisierten Welt, die leider immer unpersönlicher und seelenloser zu werden droht, werden Einkehr zur Ruhe und Besinnung auf die wahren Schönheiten, zu denen auch sicherlich auch diese herrlichr Enzyklopädie gehört, m.E. so wichtig. Und; Wieviele der einstmals so mannigfaltigen Apfelsorten gibt es noch, die größtenteils dem Universaleinheitsgeschmack zu einer Handvoll zusammengeschrumpft sind ?
Eben konnte ich auf dem kleinen Markt einige Birnen BÜRGERMEISTER und TRIUMPF VON WIEN erstehen, die Ernte jeweils eines einzigen alten Baumes im Nachbargarten meines Obst- und Gemüsebauern aus den Alten Land.
Ein kleines Erfolgserlebnis!
Die vielen lexikalischen Apfelsorten sind nun Geschichte…
Mit offenen Augen und Ohren neugierig durchs Leben zu gehen eröffnet uns doch immer noch so viel des immer noch bestehenden Reichtums unserer Welt, insbesondere der Natur, wie Du es hier schilderst – ich habe es ähnlich kürzlich auf dem jüngsten meiner seit Jahrzehnten vielen Syltaufenthalte wieder beglückend erlebt.
Mit dem Blick auf die Kleinigkeiten, die mit soviel Neuem immer wieder überraschen, und herzlichem Gruß
Sigrid Brandis
Ich sitze hier in einem AWO Seniorenwohnheim mitten im Erzgebirge. Neben mir liegt meine schwer atmende Mutter im Bett und kämpft um Leben und Tod. Will heißen, ich bin nicht sicher, ob sie darum kämpft, zu leben oder ob sie darum kämpft, endlich sterben zu können. Sie ist in ihrem 90. Lebensjahr und alle paar Minuten stehe ich auf und tröpfle ihr mit Hilfe eines Schwammes etwas Wasser in den Mund, der vom schweren Atmen mit offenem Mund völlig ausgetrocknet sein muss. Seit gestern Abend bin ich bei ihr, angereist aus dem Teutoburger Wald und kümmere mich um sie. Was soll ich sagen, es ist schwer zu glauben, aber ich bin sehr glücklich. Glücklich und dankbar, mit ihr diesen sehr intimen und vertrauensvollen Moment gemeinsam zu erleben. So viel Nähe und so uneingeschränkte Liebe empfanden wir wahrscheinlich zuletzt, als ich ein Baby war, also vor über 60 Jahren, nur dass es damals umgekehrt war. Ich bin voller guter Energie und freue mich, ihr etwas von der Liebe zurückgeben zu können, die ich all die Jahrzehnte wie selbstverständlich von ihr empfangen habe. Einzige Beleuchtung im Raum ist eine brennende Duftkerze, die schon den ganzen Tag vor sich hin flackert. Tagsüber lief wunderbare Musik, die ich für sie als Playlists auf Spotify zusammengestellt habe. Fritz Wunderlichs Ombra mai fu und Edward Elgers Enigma Variationen, das Blumenduett aus Lakmé und eine Neuentdeckung, die mir Freund William Kentridge geschenkt hat: Ethiopiques, vol. 21: Emahoy Tsege Mariam Gebru, Piano Solo.
Ein Röcheln, ich unterbreche meine Gedanken und springe auf, um meine Mutter zu beruhigen, indem ich ihr Gesicht in meine Hände nehme und ihr minutenlang in die Augen schaue. Ihre Augen schauen mir mitten ins Herz, bis sie wieder in eine andere, ferne Welt blicken. Die kühle Haut spannt sich über die eingefallenen Wangenknochen. Keine Falte, alles ganz glatt und zart. Meine Mutter war harte Arbeit gewöhnt und hatte Zeit ihres Lebens raue Hände. Noch nie wahren ihre Hände, ihre Haut so zart und weich.
Sie war eine Künstlerin mit Nadel und Faden. Alle meine verrückten Designerideen setzte sie meisterlich um. Aus einer Schneidermeisterinnendynastie kommend und in der Schneiderstube groß geworden, studierte ich selbstverständlich Modedesign. Umgeben von Stoffen und Zuschnitten auf dem großen ausziehbaren Tisch, Nähmaschinengeratter und Kundenanproben, verbrachte ich meine Kindheit. Von Kindesbeinen an war ich es gewohnt, alles auf meinen Körper maßgeschneidert zu bekommen. Später dann setzte sie meine Ideen um. So habe ich fast alles aus ihrer Hand aufgehoben. Maßanfertigungen passen ein ganzes Leben, sie passen sich quasi dem Körper an. Außerdem steckt ganz viel Liebe und gute Energie drin, so viel Kreativität und Ideen, ganze Lebensabschnitte verbindet man mit diesen Kleidungsstücken, die mehr sind, als nur Bekleidung. Später interessierte mich die Kunst mehr, aber diese Liebe zum Textilen habe ich nie verloren. Es sind meine Wurzeln.
Apropos Wurzeln, Apfelbaumwurzeln. Ich gratuliere zu dieser genialen Erwerbung. die Encyclopedia ist ein wahrer Schatz. Allein die Darstellungen unter dem Buchstaben A sind ihr Geld wert. Es sind Bilder wie aus einem Traum, so wunderschön und detailreich ausgeführt.
Ich sehe die Motive schon auf flatternder Chiffonseide….
Das macht Lust auf Fülle und Stofflichkeit.
Der Stoff aus dem die Träume sind…..
Es ist Nacht, also lasst uns träumen….
Wie bewegend Deine Zeile zu lesen. Wenn Mode das Träumen auslöst, dann ist es mehr ein Grund für mich, auf diesem Wege weiterzumachen. Sei umarmt.
Das klingt interessant. Dazu passt eine Lektüre von/ über Denis Diderot, aber das wissen Sie sicherlich schon längst… Viele Grüße von der Ostsee
Diderot und Alembert. Sie tauchen sicherlich noch auf, nicht nur in Form der Kätzchen meiner Tochter Roma.