Endlich haben Bettina und ich wieder die Gelegenheit, vertieft im Gespräch am Strand von Kampen spazierenzugehen. Unser Thema schon seit längerem: das „Beutel-Prinzip“. Sie war es, die mir vor Wochen Ursula K. Le Guin empfohlen hatte, deren kleines Buch seitdem neben meinem Bett liegt und mich auf meinen Fahrten kreuz-und-quer begleitet. Es ist eines dieser „Pocket-Books“, in dem man ständig blättert und Sätze umkringelt. (Literatur: Ursula K. Le Guin. Am Anfang war der Beutel, deutsche Übersetzung 2020.)
Die Nordsee ist karibisch, wir haben unsere Taschen dabei, Handtuch, Stativ, die beiden Blusen in pink und türkis, die Vintage Kette von Yves Saint Laurent … Wir diskutieren über das ungeordnete Sammeln, das immer am Anfang eines großen Prozesses steht, wenn es um das Wer-wir-sind und Was-wir-sein-wollen geht.
„Arthur Schopenhauer“ fällt als Stichwort. Keine Ahnung, nie etwas von ihm gelesen. „Wille und Vorstellungskraft“ addiert meine Nachbarin. Ohne viel von dem Philosophen des 19. Jahrhunderts und seinem Begriff des „subjektiven Idealismus“ zu wissen, spielen wir mit diesen beiden Wörtern. Packen wir einfach mal in den „Beutel“, was dazu gehört. Der Strand ist leer, niemand stört unser assoziatives Pingpong.
„Ohne die Vorstellungkraft können wir die Zukunft nicht gestalten“, sage ich. – „Sie zu denken ist etwas anderes, als nur vor sich hinzuträumen, es braucht die Konzentration, den Willen und die Energie dafür …“, so oder ähnlich antwortet Bettina. „Die Phantasie und den Mut, radikal zu sein, alles auf den Tisch zu legen“, bin ich wieder an der Reihe. „Sie ist ein Werkzeug des Geists“, schreibt Le Guin.
Gemeinsam gehen wir unsere Freunde und Freundinnen durch. Einige von ihnen haben begonnen, an ihrem Vorstellungsvermögen zu arbeiten, sammeln Indizien und unbequeme Wahrheiten. Sie sind gut dran. Aber es gibt andere, keineswegs weniger Kluge, genauso Talentierte, die klagen, die Angst vor dem Wandel haben. „So geht das nicht, es ist nicht so leicht, kann ich mir nicht vorstellen“, antworten sie. Sie stecken fest in ihrer Unzufriedenheit. Sie sammeln nicht, tragen keine visionären Beutel mit vielen kleinen Überraschungen. Meist ist ihr Blick zurückgerichtet, es möge doch wieder so schön sein, wie es war. War es das?
Ein wichtiges Puzzel-Steinchen muss unbedingt noch in unsere Tasche: Der Mentor oder Tutor, jener Mensch, der einen begleitet und hilft, motiviert und inspiriert. Wir haben ihn in unserer modernen Gesellschaft verloren. Heute heißt er inflationär (Life-)“Coach“, aber das ist nicht, was wir meinen.
Wir beide sprechen von dem altmodischen Weggefährten, der wissend und zweifelnd, gebildet und intuitiv uns den Raum öffnet, damit wir selbst unser Vorstellungsvermögen üben und trainieren. Der solange geduldig und beharrlich wartet, bis wir das eigene Dasein reich und erfüllt vor dem inneren Augen sehen.
Wer will schon von sich sagen: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“ (Ödön von Horváth)
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