Schluss mit Strand, Meer und Sonne, jedenfalls was mich und die nächsten Tage anbelangt. Ich bin in Hamburg. Über die Mode ist so einiges geschrieben, mein Kleiderschrank in Auszügen vorgestellt. Im ersten Bundesland beginnen heute die Ferien, für alle anderen ist es ein normaler Montag, an dem man sich am liebsten wegträumen möchte. Und nun komme ich, ganz antizyklisch, mit einem Buch über „Wahrhaftigkeit und Wahrheit“ um die Ecke, so eine Lektüre, wie man sie zurückgezogen in der hintersten Ecke liest oder sie zerknittert und zerlesen in der Hosentasche mit sich trägt.

Der Autor ist Bernard Williams oder Sir Bernard Arthur Owen Williams (1929 – 2003), einer der führenden Köpfe der Moral Philosophie, Professor an der Universität Cambridge, in Berkley/California, dazwischen Direktor des Kings College in London … Was er schreibt, wird meine Literatur-Empfehlung für den Sommer 2022.

Warum so schwierige Kost, wenn wir uns doch entspannen wollen? Weil wir die Zeit nutzen sollten, um uns nicht anzuöden, hysterisch anzuzicken oder muffig stumm im Restaurant lieber der Konversation am Nebentisch lauschen. Es geht um’s Wesentlich wie so oft und doch so selten.

Das Buch ist kompliziert und leicht zugleich. Leicht, weil es so flüssig geschrieben ist, schwierig, weil das, was dahinter steht, eine enorme Wucht besitzt. Es reicht, einen Satz zu lesen und anschließend nachdenklich Richtung Horizont zu schauen:

„Das Streben nach Wahrhaftigkeit bringt einen Prozess der Kritik in Gang, der die Gewißheit mindert, es gebe sichere oder uneingeschränkt behauptbare Wahrheit.“

Heißt, bin ich ehrlich mit mir, so muss ich alles andere auch befragen, was sich als wahr so schnell und forsch formulieren lässt. Klingt doch logisch. Und schon sind wir im schönsten Gespräch miteinander, es sei denn das Gegenüber schlägt wieder die Kurve Richtung Wetter, Covid und dass alles endlich wieder so sein soll, wie es war. Pustekuchen!

Williams: „Meine Frage lautet: Wie können wir an diese Situation herangehen? Können die Begriffe ‚Wahrheit‘ und ‚Wahrhaftigkeit‘ im geistigen Bereich derart stabilisiert werden, daß das, was wir von der Wahrheit und unseren Aussichten, sie je zu erreichen, begreifen, mit unserem Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit in Einklag gebracht wird?“ (Seite 14/15)

Selbst auf die Gefahr, dass ich jetzt 50% meiner Leserschaft verloren habe, die in die Ferien fahren ohne dieses intellektuelle Rüstzeug, mache ich weiter mit dem Satz, an dem wir herumkauen können, wie auf einem well-done Steak … und das ein Leben lang. Packen wir unseren Alltag auf den Tisch, sollte man im Urlaub durchaus machen, schließlich muss man dorthin wieder zurückkehren. Was ist gut, was ist echt, was gehört zu einem, weil man es gern und freiwillig so gewählt hat? Versuchen wir wahrhaftig zu sein und „authentisch“, das neue Modewort.

Wer will streitet sich, meinetwegen sogar heftig, geht ja um nicht weniger als die Wahrheit, die relative, die instabile, die vorder- und triefgründige, die wertvolle … Williams beendet das erste Kapitel mit den Worten:

„… in dem wir den Sinn für den Wert der Wahrheit verlieren, (werden wir) bestimmt manches und möglicherweise alles einbüßen.“

Spätestens jetzt wird es still, egal ob am Tisch oder hand-in-hand beim Spaziergang, an der Bar, im Sessel. Drehen wir noch eine Schlaufe und fangen wir wieder von vorne an: Was ist wahrhaftig und was ist wahr? Auf der Suche nach den Antworten werden wir nicht müde, langweilen uns nie. Versprochen!

Am Schluss noch ein Tipp: Langsam lesen! Zweimal lesen! Dreimal lesen! Und immer wieder etwas anderes entdecken. Der Sommer ist hoffentlich lang.

Bernard Williams. Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Suhrkamp 2013. Englische Ausgabe Truth and Truthfulness. Princeton 2002