Am vergangenen Dienstag drehte sich alles um das Leben und Wirken des Kunsthistorikers William S. Heckscher (1904 – 1999), über den mein Talkgast, Dr. Karen Michels, gerade ein Buch schreibt. Wird es eine wissenschaftliche Abhandlung oder gar ein Bestseller? Wer kennt schon William S. Heckscher? – Ein Manko, wie wir feststellen werden, denn seine Methode zu denken und zu forschen ist mehr als kreativ und zudem mitreißend spannend.

Sein Leben war lang und ereignisreich. Geboren in Hamburg wollte er zunächst Künstler werden, und weil er gut zeichnen konnte, saß ihm der damalige Kunsthallendirektor Gustav Pauli in dessen Büro Modell. Ein kleiner quirrliger Mann trat ein, und die Beiden unterhielten sich angeregt über Kunst, während der junge Heckscher zeichnete. Wer das wäre, fragte er anschließend fasziniert von dem Gedankenaustausch. „Erwin Panofsky, einer der bedeutendsten Kunsthistoriker“, so die Antwort. – „Und wo kann ich ihn finden?“ – „Eine Tür weiter, nebenan“. Heckscher ging schnurstracks rüber, stellte sich vor: „Können sie mich davon abhalten, Kunstgeschichte zu studieren?“ Es gab wohl keinen triftigen Grund.

Panofsky nahm ihn sogar noch als Doktoranden an, kurz bevor er 1933 in die USA immigrierte. Heckscher (der Halbjude) promovierte 1936 und floh direkt im Anschluss als blinder Passagier auf einem Passagierschiff nach Amerika. Er folgte seinem Lehrer nach Princeton, New Jersey. Anschließend ging er ans Warburg Institute in London. Während des Krieges galt er als „Enemy Alien“ und wurde von England nach Kanada deportiert. Viele der Nazi-Deutschland Flüchtlinge verdächtigte man im Ausland als Spione. Schon hart.

Heckscher begann im Lager junge Kriegsgefangene zu unterrichten, die Kunst von der Antike bis zur Neuzeit, die deutsche Sprache, Latein. Die humanisterische Bildung wurde für ihn zu einer Quelle von Kraft und Resilienz in einer irrsinnig gewordenen Welt. Karen und ich umkreisen oft dieses Thema, nicht nur an diesem Abend, es verbindet uns als Freundinnen.

Nach dem Krieg lehrte er als Professor für Kunst an der Universität von Utrecht und später in Durham. Seinen Ruhestand verbrachte er bis zu seinem Tod in Princeton. In seinem Arbeitszimmer türmten sich Bücher und Notizen bis unter Decke. Diesen wissenschaftlichen Nachlass vererbte er dem Hamburger Warburg Haus.

Karteikarten versuchen seitdem ein kunstwissenschaftliches System zu bändigen, das dem permanenten Wandel unterworfen ist. Ständig ergeben sich neue Assoziationsketten. Hier könnte zukünftig KI ansetzen. Aber erst einmal sind wir gefordert, unsere Denkweise für dieses geistige Mäandern zu öffnen. Karen liefert uns ein erstes Beispiel …

Heckscher wollte wissen, was hinter den Darstellungen der „unbefleckten Empfängnis von Maria“ steckt und in welchem Kontext sie stehen. Ein Engel verkündet der Jungfrau, dass sie einen Sohn gebären würde. Ein Lichtstrahl kommt vom Himmel. Der Weg führt weiter zu dem Bild der Königstochter Danaë, die von Aeus in Gestalt eines goldenen Regens besucht wird. Wenig später wird Perseus geboren. Wir sind in der Antike.

Da ist „Sternthaler“ plötzlich nicht fern, nur dass dort das Mädchen den Goldregen mit seinem Hemdchen auffängt. Nicht alle Spuren führen zurück zu Maria, aber hinter jeder Abzweigung verbirgt sich die Lust, nach Erkenntnis zu stöbern.

Assoziationsketten besitzen darum manchmal eine zunächst eigenwillige Logik, die den meisten Wissenschaftlern fremd oder sogar suspekt ist. Für sie bedarf es einer engmaschigen, gradlinigen Beweisführung. Mag sein, dass sie damit schneller zu einem Ziel kommen, aber es führt sie keineswegs in den Reichtum von Kunst und Kultur mit all seinen überraschenden Querverbindungen. Der Forscher wird bei Heckscher zum Sammler und zum Kreativen: verzettelt und vernetzt.

Diese Freude am Denken lässt uns zu Detektiven werden, die den Dingen auf den Grund gehen mit den Fragen hinter den Fragen. Bei William S. Heckscher führen sie unweigerlich in die Antike und auf genüsslichen Umwegen zurück in das Heute. Ich muss an meine Kollektionen denken, in denen vordergründig nie etwas zusammenpasst, und sich dann doch auf wundersame Weise der Bogen spannt. – Wollt Ihr noch ein Beispiel?

Karen zeigt uns eine Fotografie von Aby Warburg in einem Hotelzimmer in Rom, umgeben von den Tafeln seines Bilderatlas. Ihr fiel schon seit längerem das abstrakte Bild links oben auf. Was sollte es dort an der Wand? Warburg hatte mit Kunst nicht viel am Hut, un dazu auf Reisen. Es ließ ihr also keine Ruhe. Schön, wenn uns mal die Neugierde nicht schlafen lässt, anstatt die 1000 sonstigen Sorgen.

Eine Ahnung führte sie zu dem Künstler Ottoheinrich Strohmeyer und seinem Entwurf für die Hamburger Hochbahn, 1927. Die Spur war richtig, die Grafik an der Wand ließ sich dekordieren: „Idea Vincit“ (Lat.: die Idee siegt). Am unteren Rand sind die Namen „Briand. Chamberlain. Stresemann“ aufgeführt, die 1925/26 den Friedensnobelpreis erhielten. Ein Exemplar der Edition befindet sich übrigens in den Harvard Museen. Es wäre an der Zeit, es wieder hervorzuholen, um das aktuelle Tagesgeschehen zu kommentieren.

Wir sind begeistert. Was für eine Gedankenreise von dem Emigranten Aby Warburg in London, zu den Friedensträgern der Zwanziger Jahre bis hin zu der stolzen Ivy-League Universität in Cambridge, die gerade dem Wüten von Donald Trump standhalten muss. „Idea vincit“. Assoziatives, vernetztes Denken scheint nicht nur ein wichtiges Werkzeug der Kunstgeschichte, sondern auch die richtige Antwort auf die komplexen Vorgänge in unserer Gesellschaft.

Danke Karen Michels für diesen inspirierenden Abend. Wir treffen uns wieder im Herbst zur Signierstunde von Deinem Buch William S. Heckscher „Über Grenzen gehen“. Möge es ein Bestseller werden!

Und nächsten IT’S A DIENSTG, den 1.7.2025, könnt Ihr Euch schon mal notieren, da geht es zu den Ursprüngen der Welt, der Kosmologie, mit dem spanischen Philosophen Francisco José Soler Gil als meinem Talk-Gast. (Voranmeldung unter: info@romaetoska.de)