Scarlett O’Hara sagte es in „Vom Winde verweht“, wenn es für sie zu anstrengend war, es zu denken, wenn sie die Konfrontation nicht aushalten konnte: dann „verschieben wir es auf morgen“. Diesen Satz hat Miriam Maertens, mein gestriger Talkgast, zum Titel ihres Buches gemacht. Wie kann man sonst auch leben, wenn der Tod immer mitschwingt, einem die Luft fehlt für die nächsten Schritte, das Telefon minütlich klingeln könnte für die Lungentransplantation. Miriam ist mit der Erbkrankheit Mukoviszidose* geboren.

Sie gehört einer großen Hamburger Schauspielfamilie an. Jedoch nichts an ihr ist gespielt, gekünstelt, sondern ihr Auftreten ist natürlich, freundlich und ehrlich, als würde man sie schon ewig kennen. Ihre Schulfreundin Dottie ist ebenfalls für den Abend gekommen.

Die beiden erzählen, wie sie sich gegenseitig früher kaputtgelacht haben, aus der Klasse flogen, gemeinsam vor der Tür sangen. „Sie besaß diese Leichtigkeit“, beschreibt sie Miriam. Da sind die Beiden 12 oder 13 Jahre alt. Die ärztliche Prognose: Das Kind wird nicht älter als fünf. Nun ist sie 55 und es geht ihr gut.

Miriam hat dieses mitreißende Buch geschrieben, um anderen Mut zu machen, das Leben als Geschenk zu betrachten. Unterstützt durch Familie und Ärzte hat sie mit einem hartnäckigen Willen und einer irrsinnigen Disziplin dafür gekämpft, dass der Alltag eine Normalität erhält, dass keiner mitbekommt, wie es um sie steht. Sie wollte das verrückte Mädchen sein, das auf Klassenreise geht, das in die Ferien fährt …  und irgendwann auf der Bühne steht.

Bewegend ist ihr Vortrag. Ich spüre, wie die Gäste ihn still verinnerlichen. Vielleicht durchsucht die eine oder andere die eigene Vita, wo sie vorschnell geklagt hat, sich elend und überfordert fühlte. Miriam ist ein bewundernswertes Beispiel, dass es gelingen kann, ein dignostisch vernichtendes Schicksal umzuwandeln, „dem Tod ein Schnippchen zu schlagen“. „Klug“, wie sie sagt, ist sie dafür in die verschiedensten Rollen geschlüpft, um von sich abzulenken.

Irgendwo las ich einmal, dass wir Menschen die Eigenschaft besitzen, nur soviel an „Realität und Wahrheit“ zulassen, wie wir auch verarbeiten können. Es war mir immer eine Richtlinie, um den Optimismus und die Lebensfreude nicht zu verlieren. Unter extremen Bedingungen hat es Miriam für sich kultiviert: Bis zum nächsten Etappenziel denken und dann schauen, wie es weitergeht. Ausklammern, dass die Zeit möglicherweise nicht ausreicht, um die Wünsche zu erfüllen.

Sie ist Schauspielerin geworden, hat einen Sohn bekommen, gegen den dringenden Protest der Ärzte, war alleinerziehend, suchte immer die Gemeinschaft mit Familie, Freund*innen und Kollegen. Mit 42 Jahren hat sie sich in wirklich letzter Minute für eine Lungentransplantation entschieden. Nun lebt sie mit einem „Freund“ in sich, den ihr Körper angenommen hat. Eine zweite Geburt, die ihr ermöglicht, manches noch einmal mit einer ganz neuen Intensität anzupacken. Derzeit steht sie auf der Bühne des Deutschen Theaters Berlin für „Die Katze auf dem heißen Blechdach“.

Während Miriam eindringlich erzählt, schaue ich in die Gesichter der Zuhörer*innen, wie sie ihr lauschen. Wieder ist es ihre ernste und gleichzeitig amüsante Leichtigkeit, mit der sie einzelne Episoden schildert und uns dabei aus der Betroffenheit herausholt.

Zwischendurch lachen wir sogar über das Mädchen, das mit 11 Jahren nur knapp über 20 Kilo wog und essen durfte, was es wollte, vor allem die „Gummels“, die Weingummi-Süßigkeiten. Es ist schön, an ihrer Stärke teilhaben zu dürfen.

Manch eine zwischen uns hat auch eine Last zu tragen, die sich schwer vermitteln lässt. Miriams Geschichte ist keine Krankengeschichte, sondern eine von einem unbändigen Willen, sich den Alltag zurückerobern. Das Leben steht bereit, gelebt zu werden. Am Ende höre ich, wie sich alle von Herzen bedanken, gestern dagewesen zu sein. Sei umarmt Miriam!

Dank auch an Ralf und Falk von maison f. für die Dekoration und die Snacks. Das Buch gibt es mit jedem Roma e Toska Kauf heute und in den nächsten Tagen als Geschenk. Miriam Maertens. Verschieben wir es auf morgen, Ullstein Verlag, 2019

*Mukoviszidose, lat. mucus = Schleim, viscidus = verkleben. Eine genetisch bedingte Fehlfunktion. Die Zellen können nicht genügend Wasser in das umliegende Gewebe ziehen. Die Sekrete werden dadurch zähflüssig, und es kommt zum Verkleben insbesondere der Lunge.