Eine Weile habe ich über eine adäquate Überschrift für den gestrigen IT’S A DIENSTAG nachgedacht. Sollte sie „Lina Richter“ heißen, der Name der Urgroßmutter von Angela Hartwig, unserem Talkgast. Oder wäre „Der Pelikan“ besser, wie der Titel des zukünftigen Buches, jener Vogel, der sich in der Ikonographie mit dem Schnabel die Brust aufreißt, um mit dem Blut die eigenen Jungen zu füttern und zu retten?

Das Leben dieser Frau ist komplex, wie wir erfahren werden. Hat sie vielleicht mehr Geschichte gestaltet, als ihre berühmten männlichen Zeitgenossen, denen sie hinter den Kulissen zuarbeitete. Eines steht auf jeden Fall fest, wenn es nicht den Zufall gäbe, wäre ihr Lebens mit ca. 800 Briefen, ein paar Fotos und wenigen Erwähnungen in einer Box im Archiv vergessen geblieben. Ein Schicksal, das viele große Frauen teilen.

Der Anfang ihrer Entdeckung hängt mit dem Tod von Prinz Philipp im April 2021 zusammen. Angela saß mit ihrem Vater im Wohnzimmer, der über 90 Jahre alt und ein wenig dement der Trauerfeier im Fernsehen zuschaute. „Dem hab ich noch die Hand geschüttelt“, sagte er. Wie, Prinz Philipp? Ja, im Internat Gordonstoun in Schottland, das seine Großmutter mit dem Reform-Pädagogen Kurt Hahn als Dependance zu Schloss Salem gegründet hatte.

Es ist die erste Spur von Lina Richter. Angela gab den Namen im Internet ein. Das Wenige, das auftauchte, schien wirklich mit ihrer Familie verwoben, dem Königsberger Zweig der berühmten Bankiersfamilie Oppenheim.

Das Haus der Familie Oppenheim in Berlin. Angela trägt den Ring der Urgroßmutter.

Angela kontaktierte das Berlin-Brandenburgische Wirtschafts-Archiv, anschließend das Generallandes-Archiv in Karlsruhe, aber reisen ging nicht, Corona. Also belas sie sich zunächst über die Zeit, bevor sie in das Leben einer Unbekannten eintauchte, die über die nächsten drei Jahre zu einer Vertrauten werden sollte. Wie oft sie wohl Parallelen zu sich selbst gezogen haben mag?

Wir schauen uns an, ich weiß, dass es ihr vor allem um die Faktensammlung ging, das Bild dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit  möglichst realistisch nachzuzeichnen, bevor sie sich in emotionale Bezüge einlassen wollte.

Wie teilt sich ein Leben im Rückblick ein, wenn man nicht genug Material besitzt, um die Verschlingungen und früh angelegten Linien nachzuverfolgen? Die Zeitzeugen sind längst verstorben.

Eines ist klar, Lina Oppenheim war eine ernste, eigenwillige Frau, die sich nicht mit den rollenkonformen Plänen der Eltern arrangieren wollte.

Die Universitäten waren damals den Frauen verschlossen, es blieb die Ausbildung zur Lehrerin und die Heirat. Dafür hatte sie Raoul Richter ausgewählt, ganz zum Missfallen des Vaters. Der junge Philosophiestudent kam aus jüdisch intellektuellem Hause in Berlin. Die Mutter, Cornelia Richter, führte dort einen Salon, in dem sich die geistige und kulturelle Elite traf. Er selbst beschäftigte sich mit Schopenhauer und wurde zu einem frühen Forscher von Nietzsches Werk. Geplagt von immer wiederkehrenden Depressionen starb er 1912 mit nur 41 Jahren, und ließ sie mit fünf Kindern zurück. Er war ihre große Liebe.

Raoul Richter und zwei seiner Söhne

Über die Kontakte ihrer Schwiegermutter freundete sich Lina Richter mit dem Reformpädagogen Kurt Hahn an, der eine Assistentin suchte. Er gründete das Internat Schloss Salem, oder besser: sie gründeten es gemeinsam. Durch ihn erhielt sie Kontakt zur Politik-Elite, die mit Ausbruch des 1. Weltkrieges sprachbegabte Kenner Großbritanniens anwarb, um die Presseberichte zu analysieren und einen separaten Frieden zwischen beiden Staaten auszuhandeln. Angela erzählt und erzählt, überall zeigen sich neue Aspekte auf, wird Geschichte plötzlich lebendig.

Lina Richter avancierte zu einer engagierten Frau hinter den Kulissen, führend im Beraterstab des letzten Kanzlers Prinz Max von Baden. Sie gestaltete und lenkte möglicherweise mehr, als das Archivmaterial zunächst zu erkennen gab, maßgeblich involviert in die Erstellung von Schriften, Korrespondenzen, strategischen Überlegungen.

Lachend unterbreche ich: Vielleicht war sie es, die den Laden in den letzten Wochen des Kaiserreiches zusammenhielt, als die Männer ihres Umfeldes krank und erschöpft aufgaben, als alles um sie herum zusammenbrach. Es würde mich nicht wundern.

Wir alle sind verblüfft, was für ein unglaubliches Leben hier ausgebreitet wird über eine Frau, von der keiner so recht etwas erinnerte. Geschichte wird eben von Männern geschrieben. Aber das ändert sich, und das Buch, das im Sommer 2024 erscheinen soll, wird dazu beitragen.

Es gibt ein Crowdfunding, um die Pulikation möglichst reich zu bebildern, mit Hardcover und Umschlag, als Präsent für öffentliche Bibliotheken und Archive. Ihr könnt jetzt unterstützen, indem ihr das Buch vorab bestellt (€ 25), mit Namensnennung (€ 50) Einladung zur Buchpremiere (€250) … Hier der Link dazu: https://www.startnext.com/der-pelikan-lina-richter-salem/mehr-infos

Begeisterter Applaus am Ende des Gespräches. Dazwischen ist auch Hauke, ihr Mann, den das Recherche-Chaos seiner Frau aus dem Arbeitszimmer verdrängte. Schön zu sehen, wie stolz er auf sie ist.

Und ich gebe zu, dass ich des öfteren ein wenig mit ihr „angegeben“ habe, wie sie so beharrlich schrieb über ihre Urgroßmutter, deren Mann und Familie, die dazugehörigen Freunde und Weggefährten, die so eng mit dem Zeitgeschehen verbunden waren.

Es hat mich inspiriert zu einem eigenen Projekt über Barbara Gräfin Tyszkiewicz, meiner Schwiegermutter, einer Monuments-Woman im Zweiten Weltkrieg und wie Lina Richter noch so vieles mehr. Wir sind am gleichen Tag geboren, uns trennen 50 Jahre, zwei Leben.