Wer einen Vortrag über Religionsgeschichte erwartete, der wurde enttäuscht. Wer erfahren wollte, wie Kirche in diesen Zeiten politisch wird, kam ebenfalls nicht explizit auf seine Kosten. Vielmehr ging es um Spiritualität und Glauben, um die Macht des Wortes mit der Predigt in ihrem Zentrum. (Und das allein ist heute schon politisch.) Mein gestriger Gast, Susanne Zingel, Pastorin von St. Severin in Keitum auf Sylt, erzählt die Geschichten von innen heraus und darin liegt ihre Faszination.
Noch spät in der Nacht schaute ich mir die Fotos von dem Abend an, wie vertraut wir miteinander sind, dabei kennen Susanne und ich uns noch gar nicht lange, sind uns nur wenige Male begegnet. Aber irgendwie gibt es eine geheime Übereinkunft, und die ließ für mich dieses Gespräch intensiv werden.
Wie beginnen, ist immer ein kurzer Adrenalin-Kick. Welches wird die erste Frage sein, die den Raum öffnet für einen ungewöhnlichen Dialog? Bloß keine Nacherzählung des Lebenslaufes, bloß nicht besserwisserisch Daten und Fakten aneinanderreihen. Die Gäste blickten erwartungsvoll.
Wird es ein zufälliger Auftakt, gibt es eine Chronologie oder springe ich gleich in das Wesentliche. Ich wähle letzteres: Wie kann man die Menschen erreichen, dass sie in die Kirche gehen.
„Konzentration und Meditation“,
antworte Susanne Zingel, ohne zu zögern. „Was heißt das?“, hake ich nach. Sie erklärt es an einem Beispiel. Als sie vor Jahren in der Christianskirche (auch Klopstock-Kirche genannt) in Hamburg- Ottensen ihren ersten offiziellen Gottesdienst hielt, saßen keine 30 Personen vor ihr. „Hmh!“ Man hört noch das Stöhnen von damals. „Nächstes Jahr werden hier mindestens 130 sitzen“, sagte sie sich. Und es saßen 130 dort. Mittlerweile finden sich an den zwei sonntäglichen Gottesdiensten mehr als 2 x 200 Besucher*innen ein. So funktioniert „Konzentration und Mediation“: ein Ziel definieren, verinnerlichen und dann nachhaltige Aufbauarbeit leisten.
Schmunzelnd erzählt sie von dem Hirten, der, statt sich um die Herde zu kümmern, auf die drei alten Schafe wartet, die immer noch dort grasen, wo schon alles abgegrast ist. Hier liegt sicherlich nicht die Wirkkraft. Sie war die Erste, die 1990 einen Gottesdienst für Aids-Kranke in St. Katharinen in Hamburg hielt. 800 Menschen kamen, die gemeinsam das Abendmahl feierten. Ein Wagnis, ein Erfolg.
Ihr Weg war klar, schon mit acht Jahren wollte sie Pastorin werden, verkündete sie ihrer Mutter, die in der Küche die Wäsche bügelte. „Das werden nur Männer“, antwortete diese. Das Mädchen ging zurück in ihr Zimmer und überlegte. Da muss was gemacht werden. Später hieß es dann: Geben wir der Zingel die „besonderen“ Feiertage (heißt die, die keiner will) wie den Pfingstmontag oder den 2. Weihnachtstag. Frauen mussten immer schon aus der Defensive starten. Kein Problem.
Wer gehört werden will, sorgt dafür, gehört zu werden. Da ist sie wieder: Die Macht der Predigt. Susanne Zingels Vorteil ist ihr Wissen und die Gabe, sich viele Dinge zu merken. Sie kann eine Predigt visualisieren wie eine Partitur oder wie eine Landschaft, wie ein Gemälde. Sie spürt die Gemeinde, wenn sie vornüberbeugt nachdenkt, das Aufgeschriebene zur Seite legt, um dann frei zu erzählen und zu improvisieren. So etwas verlangt Übung und Mut, den Moment zu feiern, den „der Heiland vorbeischickt.“ Ähnlich entstehen meine Kollektionen nach langen Recherchen und einer Summe von Bildern im Kopf, die sich verselbständigen bis sie kommunizieren.
Rauh und herzlich lacht sie, der intellektuelle Überbau wird nebensächlich. Nicht, dass sie ihn nicht könnte, ganz im Gegenteil, neben mit sitzt eine hochgebildete Frau. Sie war mit 29 Jahren eine der jüngsten frisch ordinierten Pastor*inen, nach einem anspruchsvollen Theologie-Studium. Fließend liest sie auf latein, altgriechisch und hebräisch. Aber reines Wissen ist nicht allein wichtig, es erschöpft sich und kann belehrend wirken.
Was in der Bibel steht, haben Menschen zu allen Zeiten als eigenes Denken gen Himmel geschickt, um es anschließend aufzuschreiben oder weiterzuzählen. Eine ihrer zahlreichen markanten Aussagen, die Religion wieder nah und menschlich machen, damit sie uns etwas angeht. Mit so einer Haltung kann man Kirchen füllen, die ihre jahrhundertealte Spiritualität atmen. St. Severin in Keitum ist so eine Kirche, die über ihre erste Erwähnung 1240 auf eine heidnische Kultstätte verweist. Sorgfältig wurde der denkmalgeschützte Bau unter Susanne Zingels Direktion wieder restauriert.
Sie erwähnt kurz ihren Aufenthalt in den USA, und ich höre ihr akzentfreies Englisch. Wieder eine Sprache mehr. Bildung lässt einen durch Welten wandern. Was kompliziert ist, kann man schlicht und eindringlich schildern, wenn man es denn geistig durchdrungen hat. Unerschrocken, frei und mit eigenen Worten.
Zwischendurch frage ich sie nach ihren vielfältigen Aufgaben. Eine lange Reihe von Tätigkeiten: Unternehmerisch denken können, Mitarbeiter*innen, Gelder und Budgets, von Seelsorge bis Denkmalpflege, von Dächern, die der Sturm nicht mitreißt, bis hin zu Konzerten am Mittwoch, die sich selbst finanzieren. Der Organist von Notre Dame heiratete in St. Severin, und an Heiligabend drängen sich 2.000 Gäste auf die Bänke. In ihrem Team sind alle angehalten, zu jedem freundlich zu sein. „Es könnte ja der Heiland vor der Tür stehen, arm, bedürftig, heimatlos. Und dann geht sie auch mal nachts mit einem der Trost sucht rüber in die Kirche und hält neben ihm Andacht. Von innen heraus lässt sich warmherzig schweigen.
Ich ahne schon, wir werden sie alle in St. Severin in Keitum zu besuchen, bald, zu Ostern, im Sommer. Danke Dir, Susanne, für diesen wundervollen Abend, der in diesem Blog reich an Nichtgesagtem ist, aber hoffentlich eine Ahnung gibt, wie wir ihn gestern erleben durften zwischen Mode, Kunst, mit Kerzen, Wein, Brot, Butter und Käse. Mein Salon!
Ich mach mich mal schlau über den Theologen Friedrich Schleiermacher, der ebenfalls erwähnt wurde, wie er sich in den Berliner Salons der Frühromantik herumtrieb. Er könnte ein willkommenes Bindeglied sein, zwischen Glaube und den Künsten, überraschend neu erzählt.
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