Was für ein schöner IT’S A DIENSTAG gestern Abend, beinahe „cozy“ könnte man die Atmosphäre nennen, eine kleine Runde, ein paar neue Gäste. Peter Lohmeyer hätte den Raum gefüllt, aber der ist erst in einer Woche an der Reihe (6.2.). Wir füllten ihn mit einem visionären Designer, der die Grenzen des Möglichen ins Unendliche ausweitete. Er fing nicht nur den Zeitgeist ein, er formte ihn auch: Pierre Cardin.
Pierre Cardin Lektüre beim Friseur, während mir Jeffersen die Haare wäscht und föhnt.
Spontan hatte ich den Talk übernommen und mich noch einmal belesen, denn Wissen, wenn es ausgebreitet werden soll, bedarf einer Vorbereitung und Sammlung. Eine meiner Fragen an mich selbst bei der Recherche und während des Gespräches: Gibt es so etwas wie Vorsehung?
Pierre Cardin mit sechs Jahren 1928 in Staint-Étienne, Frankreich
Für den 1922 geborenen Pietro schien eine Karriere als Designer so fern, wie damals den Menschen eine Reise zum Mond. Er war der Jüngste von 13 Geschwistern aus einfachen Verhältnissen. Zusammen mit den Eltern fuhren sie 1924 mit zwei Koffern aus dem kleinen Dorf im italienischen Veneto nach Frankreich. Dort lernte er französisch sprechen und denken, wurde Franzose. Auf die Frage, was er einmal werden wolle, antwortete der kleine Junge: „A couturier“.
Pierre Cardin mit Yves Saint Laurent. Gürtel Pierre Cardin, 1969 (€ 1.200)
Seine älteren Schwestern brachten ihm aus der Weberei, wo sie arbeiteten, Stoffreste mit, aus denen er kleine Puppen nähte. Als er im November 1945 mit Anfang Zwanzig nach Paris aufbrach, fragte er zuvor eine Wahrsagerin, was er erwarten solle. Sie antwortete, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie so einen außergewöhnlichen Lebenslauf gesehen hätte. Sie erkenne einen Baum, den er in ungeahnte Höhen hinaufsteigen würde, eine brillante Karriere bis zu seinem Tod. Einen Namen, den man in der ganzen Welt kennt. – Und so geschah es. Er starb 2020 mit 98 Jahren, beschäftigt zuletzt mit der Dokumentation über sein Schaffen.
„To succeed is to become someone.“ (Pierre Cardin)
Vintage Kunstfell Mantel, Pierre Cardin (€ 800). Erstes japanisches Model, das Cardin für sich entdeckte
Mit Christian Dior arbeitete er als junger Assistent 1947 an dem „New Look“, der die ersten Nachkriegsjahre bestimmen sollte, raus aus der Tristesse, rein in die farbenfrohe Opulenz der Mode, wieder träumen lernen, die Eleganz feiern. Wenig später machte er sich 1950 selbständig.
Cardin kreierte den Look der Beatles
Er könne zeichnen und schneidern, er verstünde etwas von Materialien, selbst das Buchhaltern hatte er im Krieg geübt. Nun würde er das Verkaufen lernen und die PR in eigener Sache. Mit dem aufkommenden ersten Boom des Fliegens, reiste er in die USA, nach Japan und wenig später rund um die Welt. Er entdeckte das erste japanische Model für sich, kleidete die Beatles ein, entwarf als Erster eine Herren-Kollektion.
Ich frage in die Runde, wieviel er wohl von seinem ersten Mantel mit den berühmten Falten verkaufte? … Weltweit über 200.000 Exemplare! Die Fashion-Insider hielten den Atem an, das hatte es so vorher noch nicht gegeben.
Mit Jeanne Morau verband ihn eine Liebe, eine Partnerschaft, eine lebenslange Freundschaft
Cardin erfand das Prêt-à-Porter, man hielt ihn für verrückt, er behielt recht. Es wurde ein Wahnsinns-Erfolg. Die Mode verließ den Laufstieg und ging auf die Straße, genau dort wollte er sie sehen.
Es folgten Schuhe, Hüte, Taschen, Schmuck. Wer den Zeit definieren will, der denkt an den gesamten Look, an die Silhouette von Kopf bis Fuß. Cardin ist ein Erfinder, ein Freigeist und ein Abenteurer in seinem rasant wachsenen Design-Universium.
„A costume is like a painting in which the separate elements unite to form a perfect whole.“ (Pierre Cardin)
Emaille-Armband Pierre Cardin, ca. 1962 (€980)
Wie anders kleiden wir uns heute als unsere eigenen Stylistinnen, mischen high-and-low, Zara, Vintage und neu. So unterstreichen wir unsere Individualität und sind damit gewollt oder ungewollt ebenso Kinder unserer Zeit, die mit Versatzstücken das Gestern zu einer eigenen Gegenwart umschreibt.
Cardin kleidete die Celebrities weltweit ein.
Um auf meine Eingangsfrage zurückzukommen: Gibt so etwas wie Schicksal, Vorhersehung, wenn sich alles wie ein Wunder fügt? Auf jeden Fall für Pierre Cardin, ein Glückskind, ein Jahrhundertmann, der wiederentdeckt werden muss.
Seit dem achtziger Jahren verkaufte er inflationär Lizenzen, oft ohne selbst noch kreativ beteiligt zu sein und verwässerte damit bis zu Unkenntlichkeit sein eigenes Erbe. Ich wünsche ihm wie Yves Saint Laurent ein Museum, mehr Publikationen, und uns mehr Sammlerteile, aufgestöbert rund um den Globus.
„Thank you, Monsieur, for teaching me to play and have fun, and for being an example of freedom.“
Schreibt Jean Paul Gaultier im Vorwort des Buches Pierre Cardin. Making Fashion Modern, Paris 2022. Ein schönes Schlusswort und ein wunderbarer Ausblick auf meine eigene Arbeit.
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