Der Nikolaus hätte eine Menge zu tun, wollte er alle „Boomer“, jene zwischen 1950 und 1970 Geborenen, mit kleinen Überraschungen versorgen. Gestern saßen einige von ihnen an unserem IT’S A DIENSTAG beisammen: Ein Ex-Stellvertretender-Chefredakteur, ein Ex-Redakteur, zwei Ex-Journalistinnen, die bekannten Gesichter aus früheren Veranstaltungen, Christiane von Korff, die den Kontakt hergestellt hatte, Carmen und ich sowie die Ex-SPIEGEL-Journalistin, die nun zur Neu-Rentnerin und Buchautorin geworden ist: Bettina Musall. Ziemlich hochkarätig die Runde, würde ich sagen.
Oben: Links Christiane von Korff, rechts: Bettina Musall
Bettina wünschte sich als Auftakt für Talk und Leseprobe das „Obladi Oblada“ von den Beatles. Kann man sich so atmosphärisch in das Jahr 1968 katapultieren? Ich habe meine Zweifel. Wie funktioniert das Erinnern und das Bilanzieren von Erinnerungen? Dreimal in Peter verliebt, immer ein anderer, so Bettina. Schlaghosen (genäht von meine Mutter), denke ich. Studium, Karriere. Ehe, Kinder … Neuanfänge. Jeder verhakt sich in anderen Stationen des Leben.
„Mit Erinnerungskultur ist nicht gemeint, die Vergangenheit zu konservieren. Es ist damit gemeint, sich bewusst zu sein und wachsam dafür zu bleiben, dass die menschliche Zerstörungswut jederzeit über Kreativität und Miteinander siegen kann.“ (Seite 83) Einer der viele ernsten, nachdenklichen Kommentare zwischen den Sätzen, die sich auch humorvoll um die Leichtgängigkeit bemühen.
Aber wie gelingt es, dass man nicht die nächsten 30 Jahre vorm Fernseher hockt oder eine Insel nach der anderen besucht, bevor die untergeht? „In Einklang mit sich zu sein, ist eine der Veraussetzungen dafür, um in Würde älter werden zu können.“ (Seite 133) Wenn das nur so einfach wäre.
Ich schau in die Runde und bin mir nicht sicher, ob es uns gelingt. Dabei gehören wir zu den Privilegierten als Femmes und Hommes de Lettre, die wir die Zeit, den Intellekt und die finanziellen Möglichkeiten besitzen, um über uns und unsere Gesellschaft zu reflektieren. Was leben wir davon zum Wohle der Gemeinschaft?
Wie geht es all den anderen, die von frühmorgens bis abends schuften? Die erschöpft sind, nicht wissen, ob das Geld später noch reichen wird? Sie machen den Großteil der Boomer aus, leicht zu vergessen, wenn man zwischen Seinesgleichen hockt. Ich muss an Adornos Satz denken: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, aber wer entscheidet, was richtig oder falsch ist? Die Diskussion ist sachlich und zugleich emotional geführt.
Mehr Menschen sind zufriedener als wir denken, meint jemand später. Ich glaub es nicht, sehe die muffigen, grimmigen und frustrierten Gesichter in Bus und Bahn, registriere den enormen Zulauf der Glück- und Heilverkündenen Online- und Instagram-Seiten. Geschätzt 25% aller Erkrankungen haben einen psychosomatischen Hintergrund. Besonders ausgeprägt bei den … Boomer! Versuchen wir doch mal ehrlich, über das Glücklichsein zu reden.
Während ich neben Bettina Musall sitze, beschleicht mich das heimliche Gefühl, wir verirren uns. Politik, Wirtschaft, die Individualgesellschaft, wie muss alles zusammenwirken, damit gerechte Lösungen für die monatlich 80.000 hinzukommenden Boomer-Rentner gefunden werden. Die einen wollen weitermachen, die anderen sehnen Tag X herbei, ohne das ewige „Müssen“ im Tun. Aber was dann? Vorbereiten solle man sich rechtzeitig auf die dritte Lebensphase, so die einhellige Meinung, den Dialog mit den Jüngeren suchen.
Auch nach einer Stunde Talk geht es lebhaft weiter. Detlef Hacke steht neben mir, der SPIEGEL-Ex-Redakteur hat gerade ein Buch geschrieben: „Ich frage für einen Freund… Das Sex-ABC für Spaß in den besten Jahren“.
Sein Fazit: Es mangelt an Kommunikationsfähigkeit und -willen. Mein Fazit: Uns fehlt die Nähe im Miteinander. Beides gehört zusammen. Wir als Besserwisser-Generation wissen nicht wirklich, ob und wie uns der große Alterswurf gelingt. Boomer im Try-and-Error Modus, scheitern inbegriffen,
Bettina Musall hat kein Handbuch geschrieben. Entstanden ist eine Lektüre, die man aufschlägt, liest, weglegt, wieder aufgreift, die auf dem Nachttisch liegt, einen zum Mitdenken und Nachdenken anregt.
DAS KANN GUT WERDEN steckt heute in meinen Adventskalender No. 6 und im Nikolausstiefel als Geschenk mit jeder Bestellung. Danke Bettina für den intensiven Diskurs. Danke an Euch Gäste, dass Ihr die Mühen nicht gescheut habt, durch Schnee und Eis gestern Abend zu uns zu kommen.
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