Was ist Mode? Eine Frage, der ich immer wieder nachspüre als Selbstbefragung sowie als Recherche ihrer Geschichte. In der Avenue Montaigne 30, Paris, dem legendären Stammhaus von Christian Dior, erhält man dazu seit knapp einem Jahr eine Antwort: „Un Rêve“ – ein Traum. Die Mode sammelt hier mit einem Flügelschlag der Genialität die Kunst, die Literatur, die Musik und die Arts Decoratif um sich herum. Das ist die Geschichte von 70 Jahre Dior.

Die wenigen Menschen vor dem Eingang täuschen, es ist noch eine halbe Stunde vor Öffnung. Naiv bummeln wir an den Luxus-Geschäften der Umgebung vorbei, diskutieren heftig, was ist gut, was überflüssig ist.

Als wir zurückkehren, müssen wir geduldig warten, das Museum zeigt „ausgebucht“ an. Also unbedingt vorbestellen! Dann geht es mit ein wenig Glück hinein in eine atemberaubende Wunderwelt von Kreativität und Couture-Handwerk.

Spektakulär das Entre mit dem offenen Treppenhaus und den in den Regenbogenfarben ausgestellten Miniaturen (hergestellt im 3D-Druck). Mit dem Fahrstuhl fahren wir ganz nach oben zu insgesamt 13 Stationen von Haute Couture, angefangen bei den Einflüssen und ikonographischen Modellen von Christian Dior.

Wie selbstverständlich stehen die Entwürfe von Yves Saint Laurent, Marc Bohan, Gianfranco Ferré, John Gaillano, Raf Simons und die der heutigen Chefdesignerin Maria Grazia Chiuri nebeneinander. Jedes Outfit von einer einzigartigen künstlerischen Perfektion, immer mit einer inherenten Referenz an den Gründer.

Natalie Chrinière hat den szeneographischen Rundgang kreiert, bei dem das Auge sich nicht sattsehen kann. Allein der „Garten der Blumen“ ruft schon mein erstes halblautes Raunen hervor.

„Instagramable“ wie Toska in ihrer jungen Sprache meint. Ich gebe ihr insofern recht, das jede Perspektive ein Foto wert ist, ergänzt durch eine intelligente Erzählfülle, die uns gefangennimmt.

Nie wirkt die Inszenierung überfrachtet, immer führt sie den Blick zurück auf die Mode und ihre Details. Warum dürfen wir uns nicht einfach mal verlieren zwischen all der Schönheit? Ich bin bereit dafür.

Jeder Schritt ist wie das Umblättern in einem großen Folianten, in dem sich alt und neu abwechseln, in dem es unbemerkt durch die Jahrzehnte geht. Subtil wird im Hintergrund filmisch erzählt.

Zwei Jahre lang wurde das Stammhaus von dem US-amerikanischen Architekten Peter Marino umgebaut. Der Weg durch die Räume und Säle führt vorbei an dem Schreibtisch von Christian Dior. Genial wie Marino die Decke nebenan herausnahm und durch Glas ersetzte, damit man dadrunter die Ankleideräume sehen kann.

La cabine est un mode à part. Comme les loges de théatre, elle a ses fauteuils, ses lampes et ses miroirs. Comme les loges, elle n’est habitée que par des fées.“ (Dior)

Das Haus erscheint wie ein Universum, das Schönheit produziert, das Vergangenheit ausströmt und Zeitlosigkeit inhaliert. In dem oberen Saal drängten sich die Zuschauer*innen, die damaligen Celebrities, Marlene Dietrich, Ingrid Bergmann, Grace Kelly. Wer trug nicht alles Dior und trägt es wieder, diese Kleider aus Organza und Brokat, die zu jeder Zeit, die Weiblichkeit huldigen?!

Die Nähe zu den Künsten ist aller Orten spürbar, macht deutlich, dass Mode ein Teil davon ist, ein Kulturgut, ein Grenzgänger, der das Leben inszeniert.

Die unterschiedliche Handschrift und Aussage der verschiedenen Chefdesigner*innen wird nicht nur in den Modellen gezeigt, sondern auch mit Original-Statements in einer Audio-Collage wiedergegeben: die große Gestaltungskraft von Christian Dior, das Raffinement von Yves Saint Laurent, der phantastische Mut eines John Galliano, der Minimalismus von Raf Simons und die zarte Unerschütterlichkeit von Maria Grazia Chiuri.

Darin schließt sich der Saal mit hellem weißen Licht an, in dem die Nesselmodelle ausgestellt sind und die „Petits Mains“ zu Wort kommen. Ehemalige Couture-Schneiderinnen des Hauses geben geduldig Auskunft.

Weiter geht es wie auf Diors Kindheitsreise „In 80 Tagen um die Welt“. Verschiedenste kulturelle Einflüsse werden in Stoffen und Formen aufgegriffen: Mexiko, Japan, China … Ägypten. Mode und ihre Traumwelten werden zu einer Möglichkeit, der Realität zu entfliehen. (Hatten wir doch gerade auf der Premier Vision als neuer Trend.)

Für die einen mag es zu viel der Opulenz sein mit den Video-Shows von barocken Deckengemälden hin zu realen Wolkentürmen. Christian Dior durchbrach mit seinem Überschwang die Nachkriegstristesse. Ich erlaube mir, das Spektakel mit einem „Ah“ und „Oh“ zu huldigen.

Maria Grazia Chiuri fasst für mich auf smarte Weise am Ende das Gestern, Heute und Morgen zusammen: WE SHOULD ALL BE FEMINIST. Ich wünschte ich hätte damals noch so ein Shirt ergattern können.

Nach über einer Stunde sind wir komplett verzaubert, als wären wir in einem langen schönen Film, der nicht enden soll.

„Les couturiers incarnent un des derniers refuges du merveilleux. Ils sonst en quelque sorte des maîtres à rêver …“ (Christian Dior)

Ich habe dem nichts hinzufügen, trage das Wort „merveilleux“ (wunderschön) noch auf den Lippen, als wir draußen durch die Straßen schlendern.