Was für eine Landschaft hat die sternenklare Nacht heute früh gezaubert! Es sah aus, als hätte Swarovski Abermillionen von Kristallen ausgeschüttet, die die Holzplanken zu einem Laufsteg machten und sich über die feinen Äste und Sträucher legten. Die Kamera kann nur annähernd festhalten, was das Auge endlos verzaubert.
Nach dem Frühstück setze ich mich hin und lese „Die Schneekönigin“ (1862) von Hans Christian Andersen, eine Wissenslücke. Schon nach wenigen Zeilen würde ich dem Märchen einen anderen Titel geben, denn es ist nicht die eiskalte Königin, die mich fesselt, sondern der teuflische Spiegel, …
„… welcher die Eigenschaft besaß, dass alles Gute und Schöne, was sich daran spiegelte, fast zu nichts zusammenschwank, aber Das, was nichts taugte und sich schlecht ausnahm, hervortrat und noch ärger wurde. Die herrlichsten Landschaften sahen wie gekochter Spinat darin aus, und die besten Menschen wurden widerlich oder standen auf dem Kopfe ohne Rumpf … „
Der Teufel und seine Genossen liefen damit herum und priesen ihn als Wunder, nun könne man erst sehen, wie die Dinge wirklich seien, verdreht. Sie wollten mit ihm zum Himmel hinauffliegen, und je höher sie kamen, desto mehr wurde der Spiegel zu einer grinsenden Fratze, bis er zerbarst in hundert Millionen, Billionen Teilchen, kaum so groß wie ein Sandkorn, die sich in den Herzen und den Augen der Menschen festsetzten. Jede Mini-Scherbe besaß die gesamte Kraft des Spiegels und ließ die Welt grau und böse, verkehrt herum sehen.
Zwei klitzekleine Stücke gerieten auch dem jungen Kay ins Herz und Auge. Doch bis auf seine Freundin Gerda fällt es keinem auf, er wird als ausgezeichneter Kopf bewundert. Seine Spiele verändern sich gegenüber früher, jetzt sind sie „so verständig“. Nun sind für Kay die Schneeflocken bloß noch „ganz accurat“.
Keine Angst, ich erzähle nicht das ganze Märchen oder doch? Schon bald nach dem „Unfall“ hängt der Junge sich an den Schlitten der Schneekönigin und verschwindet. Das kleine Mädchen macht sich auf die Suche nach ihm und geht in die Welt hinaus. Jeder erzählt ihr seine eigene Geschichte, nur keine von Kay. Eines können allerdings alle bestätigen: „Todt ist er nicht“, antworten die Blumen, die Sonne und der Wind.
Gerda trifft auf ihrer Reise so allerlei wundersame Wesen, die Prinzessin, die einen Ehemann sucht, der zu antworten versteht, wenn man mit ihm spricht (wünschen wir uns doch alle), das Krähenpaar, das eine „Festanstellung“ möchte, damit sie abgesichert sind, aber seitdem hat die Krähenfrau immer Kopfschmerzen, die Räubertochter, die ihr eigenes Leben wählt, und die Träume, die die Jagdgesellschaft abholen.
Der Weg führt sie hoch in den Norden nach Lappland und Spitzbergen, wo ich gerade selbst sein wollte, an Bord der MS Europa, dort wo die Nordlichter sind und die Feen herrschen. Aber das Mädchen braucht ihre Hilfe nicht, denn sie besitzt die Macht des Herzens. (Nun wisst Ihr, warum ich Märchen liebe.)
Endlich kommt sie im Schloss der Schneekönigin an, deren Wände aus treibendem Schnee bestehen mit Fenstern von schneidenden Winden und hunderten Sälen, so groß, wie der Schnee sie zusammenfegte. Inmitten des Sees sitzt die Königin im Spiegel des Verstandes, das einzige und beste der Welt, ihrer Welt.
Der Junge hockt daneben und legt Figuren zu Buchstaben, aber das geheimnisvolle Wort, der Schlüssel zu seinem Glück, will ihm nicht einfallen: Ewigkeit (∞).
Endlich das Finale: Gerda sieht ihren Freund und fängt vor Freude an zu weinen, und die Wärme ihrer Tränen dringt in sein Herz und bringt dort die eisige Spiegelscheibe zum Schmelzen, so dass er auch wieder weinen kann. Und er weint und weint bis sein Splitter aus dem Auge gewaschen wird. Hand-in-Hand gehen sie wieder zurück in ihr Land und merken darüber, dass sie erwachsen geworden sind.
Schön kitschig, oder?! Nur die Räubertochter stellt noch eine wichtige, entscheidende Frage am Ende: „Ich möchte wissen, ob Du verdienst, dass man Deinethalben bis an der Welt Ende läuft!“
Morgen ist Valentine’s Tag. Wir sollten all jene bedenken, für die sich dieser Weg lohnt, bis ans Ende der Welt und wieder zurück.
Wie schön!