Eine Woche lang war er mein stummer Vertrauter, lag gleich rechts neben meinem Schreibtisch auf der Kommode, mein Fliegenpilz. Ihm galt mein erster Morgengruß und der letzte Blick am Abend, bevor ich das Licht ausschaltete. Am 6. Oktober hatte ich ihn abends gefunden. Er lag im Gras, bereit, sich dem natürlichen Kreislauf von Wachsen-Sterben-Vergehen hinzugeben. Vorsichtig hatte ich ihn aufgehoben und nach Hause getragen, damit er für die nächsten Tage mein Skizzenbuch schmückt und bereichert. Im Zwiegespräch mit einem Fliegenpilz.
Ich durfte Zeugin sein, wie er Stück für Stück weniger wurde, sich seine Schönheit veränderte, sein prächtiger Schirm sanft vornüberkippte, sein strahlendes Rot sich zu einem metallic-schimmernden Rot-Orange verwandelte. Mit dem Bleistift zog ich regelmäßig die enger werdenden Linien seines Schattens und notierte das Datum.
Die hellen Lamellen, die einst so prächtig aussahen, als wären sie Seiten in einem edlen Buch, erhielten dunkle Flecken und wurden knitterig wie vergilbte Blätter in einem alten Folianten, der der Feuchtigkeit der Jahrhunderte ausgesetzt war.
Mein Fliegenpilz verwandete sich von einem verwunschenen Prinzen zu einem alten weisen Wesen aus Urzeiten, als das Leben sich vom Meer auf das Land ausdehnte. Er ähnelte einer Qualle und war doch König seines eigenen Funga-Reiches.
Sein einst so majestätischer Reif sah nun aus wie ein schrumpeliger Lippenwulst, der nur noch rauh flüstern konnte. Seine Fächer erinnerten an die Haare des Methusalem. Eine frühe Seele.
Auf meinem Spaziergängen sah ich andere Fliegenpilze sprießen. Freundinnen schickten mir ihre Fotos von Fliegenpilzen, als wäre wir eine eingeschworene Gemeinschaft um meinen Fliegenpilz. Irgendwann würde ich ihn dem Gras und dem Heideboden zurückgeben müssen. Aber wann? Mein Wunsch war es doch gewesen, dass er sich für immer in meinem Skizzenbuch verewigt. Ich glaube, dass tat er die ganze Zeit auch, nur dass ich es nicht sehen konnte. Dafür entdeckte ich die kleinen Fliegen und Maden, die sich seiner bemächtigten. Der Tag war gekommen.
Heute Morgen trug meinen Fliegenpilz Richtung Wattenmeer, dorthin, wo ich ihn vor sieben Tagen gefunden hatte. Die Sonne ging gerade auf, Wolken hingen tief und ließen nur ab und an ein milchiges Blau durchscheinen. Die Insel entwickelte ihre ganze Magie. Niemand begegnete mir, und wenn, sie hätten sich sicherlich gewundert: Was macht die Frau mit dem Hund und dem aufgeschlagenen Buch.
Wir stoppten ein paarmal und begrüßten seinesgleichen, die jung und stolz ihre Fliegenpilzschirme in die Landschaft reckten. „Hallo Ihr, ich bringe Euch jemanden zurück.“
Wenig später gelangte ich an die Stelle, wo ich ihn vor sieben Tagen entdeckt hatte. Ein anderer Pilz stand nun dort wie ein Platzhalter. Ein kurzes Nicken von meiner Seite. Ja, hier ist es richtig. Vorsichtig zog ich die Folie von dem Buch, damit der leichte Nieselregen ihm nichts anhaben konnte und machte mich ans Werk wie ein treue Freundin und gewissenhafte Totengräberin.
Sorgsam hob ich den leblosen Körper an und bettet ihn zwischen die Gräser und das Heidekraut, legte Blümchen drumherum und stellte die Polaroids daneben.
Lange wird es nicht dauern, dann wird mein Fliegenpilz wieder eins sein mit dem Erdboden. Maden und Würmer übernehmen unbeeindruckt ihren fleißigen Job. Neue Pilze werden sprießen und sich unterirdisch ausbreiten bis zu den Birken hinter mir und weit hinab zum Meer. Ich behalte die Aufzeichnungen und Fotos. Sein Abbild hat er für mich als Erinnerung in das Skizzenbuch gepresst.
Was werden wohl die Spaziergänger*innen heute und morgen denken, wenn sie diese Ruhestätte entdecken? Ob sie es überhaupt wahrnehmen oder laut plaudernd mit ihren Nordic-Sticks achtlos links und rechts in den Boden spießen, den Blick geradeaus gerichtet?
Vorsichtig klappe ich mein Skizzenbuch zusammen und spaziere runter zum Watt. Die Geschichte vom meinem Fliegenpilz wird Euer und mein Geheimnis bleiben und mitschwingen in einer Kollektion, die gerade am Entstehen ist, von altem und neuen Wissen, von Vergangenheit und Zukunft: „Encyclopedia„.
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GROSSES GLÜHWÜRMCHEN TUCH, MULTI
€249,00 inkl. Mwst. -
PUFFARM GLÜHWÜRMCHEN BLUSE, MULTI
€498,00 inkl. Mwst.
Eine wunderschöne Ode an die Vergänglichkeit!
Toll geschrieben , wie immer…
Herzlichen Dank liebe Birgit!