Es geht um einen weiteren Trend in diesem Herbst-Winter 2022/23 und gleichzeitig um viel mehr als eine kurzfristige Modeerscheinung. Gemeint ist die „Archäologie“, und ich ergänze „…des Alltags“. Dinge umgeben uns mit einer „Vorzeit“, einer früheren Geschichte, an der wir nicht beteiligt waren. Sie landen als Ankäufe, Geschenke und Entdeckungen in unserer Wohnung und verbinden sich mit einer neuen Gegenwart. Das mag ein wenig poetisch klingen, ist aber so, jedenfalls für jene von uns, die achtsam sind.

Die Fensterbank vor meinem Schreibtisch ist zu einer wahren arächologischen „Ausgrabungsstätte“ geworden. Gelesene und ungelesen Bücher mit Spuren meiner Notizen, die Muschel aus der Réunion, die ein Freund mir zum Abschied in die Hand drückte, die andere Muschel, die einsam am Strand lag, ein antiker Armreif, nicht zugeordnet. Eine Erinnerung an Monique, die ehemalige Atelierchefin. Vasen …

Eine neue ist dazugekommen, hergestellt von Hedwig Bollhagen (1907 – 2001), einer der wichtigsten deutschen Keramikerinnen aus dem Bauhaus Umfeld. Für ein paar Euros habe ich sie erstanden, ein emotionaler Kauf, etwas an dieser schlichten ursprünglichen Form hat mich gerührt.

Ich stecke sie in die Tasche zwischen das Badehandtuch und geh mit ihr an den Strand, wer weiß, allein, dass ich sie mit mir trage, schärft schon mein Auge für die Umgebung. Es geht vorbei an dem Drahtzahn, an dem die Herzen hängen, manchmal zwei nebeneinander, manchmal drei, heute sind es vier, dicht an dicht, auch so eine Geschichte.

Meine Gedanken schweifen ab, wie so oft, ich muss an den Berliner Künstler Peter Buechler denken, der auch immer auf der Suche nach alten Fundschätzen ist, nicht als „Archäologe“ und auch nicht als „Ur- und Frühgeschichtler“, aber als „Geschichtler“, der den unbekannten Werken eine neue Autorschaft verleiht.

Peter Buechler, They all lie to you (him), 2022, 38 x 32 x 4 cm, Öl auf gefundenem Barockgemälde (€ 4.250)

Zurück zu meiner kleine Vase in der Hand. Vielleicht ist sie noch vor dem Krieg entstanden, Ende der zwanziger Jahre. Sie ist kaputt, jemand hat sie notdürftig gelebt. Wenn ich mit den Fingern darüber spreiche, spüre ich noch Reste davon. Auch am oberen Rand ist etwas abgesprungen.

Kann sein, dass sie mich gerade deswegen an die „Archäologie des Alltags“ erinnert. Sie hat überlebt! Mit einem „HB“ handsigniert und der Nummer 3 versehen. Wasser darf man nicht mehr einfüllen, aber warum auch. Vasen sind doch nicht nur Behältnisse für Blumen, sie besitzen ein Eigenleben.

Früher im Studium habe ich immer ein wenig die Archäolog*innen belächelt, wie sie über Monate an Scherben arbeiteten, sortierten, verzeichneten, kategorisierten, um sie am Ende wieder akribisch zu Vasen zusammenzufügen. Es wäre immer noch nichts für mich, aber ich komme dieser zeitenthobenen Haltung etwas näher, während ich meine kleine Hedwig Bollhagen betrachte. Sie lehrt mich das Sehen.

Algen werden zu Blumen, Sandkörner zur Grundierung einer fiktiven Leinwand, mitten drin als stille Hauptdarstellerin mein archäologisches Alltags-Objekt. Nachher wird sie wieder auf der Fensterbank vor meinem Schreibtisch stehen, stumm und beredt. Wer wirft schon etwas weg, nur weil es ein wenig beschädigt ist.