Leonardo da Vinci hatte den Fleck an der Wand, von dem aus eine Fülle der Inspiration ausging. Karen Michels und ich haben oben im Tempel darüber geplaudert. Picasso hatte den Schatten als Einfall, der ihn zu Plastiken, Skulpturen und Bildern anregte. Es war der Schatten seiner jungen Geliebten Marie-Thérèse Walter. Das erste Mal hatte er ihn am Strand von Dinard in der Bretagne gesehen, das war 1927. Da war die Schattengeberin gerade mal 19 Jahre alt und der Künstler 46. Von da ab an wollte er für die nächsten zehn Jahre nicht mehr ohne diesen Schatten leben.
Picasso, Portrait of Marie-Therese, 1937
Was ist überhaupt ein Schatten? „Der Schatten ist der gar nicht oder weniger beleuchtete Raum hinter einem undurchsichtigen oder nicht vollkommen durchsichtigen Körper, der sich im Strahl einer Lichtquelle befindet.“ (Wikipedia)
Für Picasso wurden Marie-Thérèse und ihr Schatten zu einer der schönsten Landschaften aus Farben und hell-dunkel.
Gegenstände oder Personen werden durch den Schatten modelliert. Die dunkle Fläche mit den hart umrissenen Linien führt in eine Abstraktion sowie in eine Scheinwelt oder zumindest in einen Zwischenbereich der Phantasie. Keine Kunst ohne Schatten. Daran muss ich denken, als heute früh das erste Sonnenlicht durch meine Fenster fällt.
Ich schreibe an einem Text über Kafka, aber diese Schattenformen lenken mich immer wieder ab, bis ich aufstehe und mich auf die Suche nach diesen „Landschaften“ begebe. Da ist die MS Europa als Modell, das sich als Silhouette an die Wand malt, als würden sich gezackte Wellenberge auftürmen.
Gegenüber befindet sich die Eingangstür mit den friesischen Fensterrahmen. Die geometrischen Formen zeichnen beinahe sakrale Muster an die frisch gestrichene Tapete, spielen mit dem Frauenbild von Claudia Rößger. Intuitiv muss ich gewusst haben, warum ich diesen Platz freiließ.
Claudia Rößger, Filz, 2021, Kreide auf Papier, 42 x 29,7 cm, gerahmt (€ 900).
Diszipliniert kehre ich nach einer Weile zurück an meinen Text, ertappe mich jedoch, wie meine Augen ständig verstohlen durch den Raum wandern. Die Sonne wird mächtiger, die Kontraste beginnen grell weiß zu leuchten. Selbst meine Wasserflasche wird zu einem amorphen Bild auf meiner Leder-Agenda.
Die Dinge, die mich umgeben, verschmelzen mit ihren zweidimensionalen Zwillingen und lehren mich das Schattensehen. Ganz neue Gemälde entstehen, die KünstlerInnen wieder zu Neuem anregen würden. In erinnere eines der Lieblingsbilder von Karen: Adoph Menzel, Zimmer mit Balkon, von 1845.
Die Minuten vergehen, wenig später schultere ich meine Badetasche, pfeife nach den Hunden und gehe mit Counsinchen ans Meer. Die Schatten von Marie-Thérèse bleiben in meinem Kopf, der Blick tastet suchend über den Strand. Auch Muscheln besitzen ihren Schatten und Steine, die die Stürme über den Winter freigelegt haben.
Und wenn es auch nicht der statuenartige Schatten von Marie-Thérèse in der sommerlichen Wärme der Bretagne ist, so werfe ich doch auch meine „Landschaft“ auf das Meer und Samy die seine auf den feuchten kühlen Sand.
Zurückgekehrt, werde ich die nächsten Kisten und Kartons auspacken, meine kleine Menagerie auf der Fensterbank wieder aufstellen und dabei beobachten, wie sich die Schatten miteinander verbinden, jedenfalls solange mir die sonnige Lichtquelle nicht abhanden kommt.
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