Normalerweise geht mein erster Blick in der Früh vor dem Haus in Kampen auf Sylt zu den Sternen, aber die sind um 5:30 Uhr hier im Norden nicht mehr zu sehen. Ein fahles rosa-blau färbt den Himmel. Also gehe ich weiter über das feuchte Gras zum Kirschbaum vor der Tür. Seit Tagen taste ich ihn mit meinen Augen ab in seiner verhaltenen Pracht. Wann werden sich die Knospen öffnen? Es ist noch kühl am oberen Zipfel Deutschlands.

Und siehe da, eine vorwitzige Blüte hat sich getraut, ganz allein zwischen all den anderen hat sie ihre rosa Blätter entfaltet. Mit einem Lächeln husche ich zurück an meinen Schreibtisch, zu meinem Computer mit dem Kaffee daneben, und denke mich in den Tag …

Was war vor einem Jahr? Ich hatte gerade den Vertrag für die MILCHSTRASSE 11 einvernehmlich aufgelöst. Umzug in drei Wochen. Der Kirschbaum stand schon in voller Blüte, nur ich war noch nicht angekommen. Als ich am 8. Mai 2020 endlich auf die Insel fuhr, strahlte der Baum in allen erdenklichen Tönen von Rosa bis Pink.

Das nächste Foto am 9. Mai 2020. Viele Blätter bedeckten schon das Gras. Was ist zwischen damals und heute alles passiert, mit der Welt, mit uns, mit mir? Und nun sitze ich seit Tagen vor meinem Fenster, bin im Garten, stehe vor dem Baum und warte auf erste, zweite, dritte Blümchen, die sich öffnen. Als würde es nichts Wichtigeres geben.

Endlos verharre ich in einem Loop, einem kreativen Schwebezustand mit Blick auf meinen Kirschbaum. Man hört das Geräusch von Autos auf der Straße, wie ungewohnt, aber die Insel ist seit gestern für den Tourismus freigegeben. „Modellregion“. Die Geschäfte sind heute noch geschlossen, es ist Sonntag, die Bäderverordnung wurde ausgesetzt.

Morgen geht es dann richtig los, was immer es heißt. Es ist Sonntag, ich trage rosa-rot und warte, bis meine Kirschblüte sich öffnet. Diese Geduld hätte ich vor einem Jahr noch nicht besessen.