Es ist kein Witz, der Bildtitel von Pieter Bruegel d.Ä. lautet wirklich so: „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“, 1559 gemalt, 118 x 164,5 cm groß, im Besitz des Kunsthistorischen Museums Wien. Was würde besser zu einem Aschermittwoch passen, so mein Lunch Gast Karen Michels. Diesmal treffen wir uns in Kampen auf Sylt, wo sie einen Forschungsauftrag angenommen hat.

Das Essen hat kein anderer zubereitet als mein Mann. Es ist schlicht, das Brot ist selbst gebacken, wir befinden uns im „Übergang“ zwischen Völlerei und Verzicht (Rezepte folgen), ganz entsprechend dem Motto des Meisterwerkes.

Wo fangen wir an in diesem „Wimmelbild“ (unklar, ob kunsthistorischer Terminus, aber treffend)? Es gibt keine erkennbare Komposition, kein vorne und hinten, die Perspektive ist außer Acht gelassen, der Horizont ist hochgeklappt. Es scheint, als ginge es dem Maler einzig und allein darum, möglichst viele Menschen und Szenen auf dem Bild unterzubringen.

„Danken wir Gott, dass er uns ‚Inside Bruegel‘ und die Wiener gegeben hat!“ Mit diesem Stoßseufzer taucht Karen in unser Gespräch ein, und ich beeile mich zu notieren.

2019 jährte sich zum 450. Mal der Todestag von Bruegel (1525/30 – 1569), dem bedeutenden niederländischen Maler des Renaissance. Anlässlich dieses Jubiläums organisierte das Kunsthistorische Museum Wien nicht nur eine Ausstellung, sondern ließ die wichtigsten Gemälde aus seinem Bestand hochaufgelöst im Makro-Bereich fotografieren (insidebruegel.net).

Endlich können wir sehen, wie der Künstler es sah, mit dieser Fülle an Details, die selbst noch mikroskopisch klein den ganzen Gehalt der Erzählung besitzen. Wir beginnen unsere Unterhaltung mit der Gruppe unten, die sich wie zu einem Gefecht aufgestellt hat: Prinz Karneval links, geschoben von den Narren, und Frau Fasten rechts, gezogen von zwei Nonnen. Spanferkel gegen Fisch.

Genüsslich können wir uns die beiden aus der Nähe anschauen, Makro macht’s möglich, den feisten Typen auf dem Fass, dem das Geschlecht mächtig angeschwollen ist (Karnevalisten und prüde LeserInnen mögen verzeihen).

Und auch der Schinken mit dem Messer in dem Schlitz will mehr sein, als nur ein Messer in einem aufgeschlitzten Schinken …Soll ich noch mal vergrößern? Bitte schön, Karen und ich haben nichts geschluckt, wir schauen nur genau hin (dank den Wienern).

Die große Enttäuschung kommt auf der rechten Seite, denn Frau Fasten ist keine wirkliche Alternative. Da müssen wir den übermütigen Jecken im Aschermittwoch-Trübsal zustimmen. Die Dame ist komplett spaßbefreit, dürr und mickrig.

Fazit schon nach wenigen Minuten der Betrachtung: Der Maler gibt uns keine Orientierung von gut und schlecht, von richtig und falsch. Mit den Augen lässt er uns in seinem „Wimmelbild“ herumirren, bis unsere moralische Standfestigkeit in Unordnung gerät. Da wird im Hintergrund geküsst und gleich daneben gekotzt, es gibt Fisch und Muschel-Suppe, und manch einer ist schon im Suff eingeschlafen …

… Der Herzog drückt den Armen Geld in die Hand, es wird getanzt, gespielt, ein Krug zerbricht, der Krüppel verrät uns ein Stück damaliger sozialer Wirklichkeit.

Alles ist gleich wichtig, alles wird gesehen und nebeneinander gestellt. Was für eine Revolution zu den vorherigen Kunstepochen, in denen das Höfische und Religiöse ausschließlich als erwähnenswert galt. Nun ist es das Volk, das Bruegel wie ein Chronist darstellt. Karen kann gar nicht aufhören, eine Szene nach der anderen zu beschreiben. Das I-Pad hat seinen Geist aufgegeben, das Handy tut es auch.

Rechts oben strömen die Menschen aus der Kirche mit ihren Stühlen über der Schulter (Bestuhlung gab es damals noch nicht in den Kirchen), die Nonnen lächeln scheinheilig. Wir befinden uns im Millimeter-Bereich, aber es gibt keinen Zweifel, das ist ein lüsterner und kein frommer Blick.

Was nun? Es gibt keine moralische Aussage, das ist neu. Vorher war es die Aufgabe von Künstler und Werk, den Menschen zu einem besseren Wesen zu erziehen, hier nichts davon, das Spektakel verlagert sich auf das reine Erzählen und die Malerei.

Das Detail ist die Botschaft, verkünde ich, als hätte ich gerade ein schwieriges Rätsel geknackt, und Karen scheint mir schelmisch zuzustimmen. Gleichzeitig erzählt sie immer weiter, von dem Krug, den Devotionalien, die verkauft werden …

…“und bitte sag Deinem Mann auch, dass ich es sehr schätze, wenn heute noch jemand die Butter verziert.“ –  So ist das mit den Details, alles passiert gleichzeitig und plötzlich geht das Auge auf eine rastlose Wanderschaft. Wir fotografieren.

Trotzdem lasse ich nicht locker. Worum geht es in dem Bild? Der Karneval als pralles Leben ohne an ein Morgen zu denken? Das Fasten als Selbstbeschränkung mit Blick auf die Erlösung und das ewige Leben? Ist es wirklich so modern, wie ich denke? Erneut bleibe ich an der Vielzahl der Bildelemente hängen, einer Welt, in der jeder und alles wichtig ist, und wir unsere eigene Position finden müssen.

Karen prophezeit mir eine schlaflose Nacht mit Augustinus „De civitate Dei“ (413 – 426 n.Chr. entstanden). Nein danke, ich winke ab, habe schon letzte Nacht schlecht geschlafen. Es reicht, wenn wir festhalten, dass wir auf die Dinge achten müssen, auf alle (!), und dass wir selbst uns in ein Gleichgewicht zwischen Karneval und Fasten bringen. Genug für den Anfang. Dabei immer schön aufpassen, dass wir nicht allein oder paarweise blind und müde dem Narren folgen in eine „verkehrte Welt“.

Allen, die gelangweilt im Lockdown hängen, empfehlen wir „Inside Bruegel“ für endlose Entdeckungen, kleine Kurzgeschichten von Völlerei, Sex und Entsagung sowie einer eigenen subjektiven Urteilsfindung zwischen Karneval und Fasten. Diese Freiheit erlaubt uns die Malerei von Pieter Bruegel d.Ä., das erste Mal überhaupt in der Kunstgeschichte, was für ein unbändiges Erlebnis.