Unserem Treffen an diesem Montag habe ich förmlich entgegengefiebert, einem Lunch mit einem der bedeutendsten Werke der Kunstgeschichte: dem Genter Altar, signiert und datiert Jan van Eyck, 1432/35, aufgestellt in der St.Bavo Kathedrale in der flämischen Stadt Gent. Wir lassen wirklich keine Superlative aus.
Es war das Thema meines ersten Semesters Kunstgeschichte, lange ist’s her, aber bei Quiche und Salat, Kerzen und offenem Fenster (Aerosole usw.) gelingt es Karen sofort, die Erinnerungen in mir wieder wachzurufen.
Leihgabe der Kerzen-Objekte von Maison F., Poolstrasse gegenüber .
Als ich den Genter Altar das erste Mal in echt sah, die Flügel weit geöffnet, da muss ich 21 Jahre alt gewesen sein. Ich weiß es noch genau, wie ich das Kirchenschiff durchschritt, vor mir dieses gewaltige Werk der Neuzeit und mir flossen die Tränen, fast hätte ich mich hingekniet in Ehrfurcht vor der Kunst und der Schönheit. Klingt kitschig, war aber so. Und ich glaube, mir würde es heute ähnlich gehen.
Die große van Eyck Ausstellung im Frühjahr 2020 haben wir verpasst, geschlossen wegen Corona, ein Jahrhundertereignis mit Werken aus der ganzen Welt. Auch so ein Versäumnis, unwiederholbar, was wir in dieser Zeiten allzu schnell vergessen, wenn wir an unsere alltäglichen Sorgen denken.
Karen und ich holen tief Luft, denken kurz betrübt wie es gewesen wäre, laufen in Gedanken die Bildergalerie entlang, und versuchen ein wenig von dem versäumten Glanz in diese Stunde hier oben im Tempel von 1844 in Hamburgs Neustadt hinüber zu retten.
Mein Outfit habe ich dem Thema angepasst: Die Holland Seidenbluse sowie die Jeansjacke von dem flämischen Designer Walter van Beirendonck. Die Hektik des Montagmorgens lassen wir hinter uns, es dauert keine fünf Minuten und wir entschwinden in die Welt der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in die dieses Werk wie eine Revolution hinein brach. Man stelle es sich ähnlich vor wie die ersten bewegten Bilder in den Schaubühnen, den Verläufern der Kinos. Die Menschen waren starr vor Erstaunen über so viel Realität.
Wir beginnen auf der Vorderseite des Altars, so wie er im geschlossenen Zustand zu sehen ist. Die unteren Figuren, links und rechts, sind die beiden Stifter, der Genter Kaufmann Joos (Jodocus) Vijd und seine Frau Elisabeth Borluut. Beide schauen leicht nach oben, eingestellt beinahe wie Heilige oder Selige (eine Kategorie dadrunter) in Nischen, so individuell und ungeschönt, dass die Warze im Gesicht der Frau ganze Generationen von KunsthistorikerInnen beschäftigte. Ars Nova, so etwas hatte es zuvor noch nie gegeben.
Bild im Hintergrund: Helma Patrick (*1940), „Mauerblümchen“, 2009, Öl auf Leinwand, 90x 90cm. Galerie Holthoff.
Daneben stehen Johannes der Täufer mit dem Lamm im Arm und dem Fellrock unter dem Überwurf, rechts von ihm Johannes der Evangelist mit der Schlange und dem Gefäß (man wollte ihn vergiften und eine Schlange verriet den versuchten Mord).
Van Eyck greift die Paragone-Diskussion seiner Zeit auf, den Wettstreit der Künste: Welche ist wichtiger, die Skulptur oder die Malerei? Mit größter Virtuosität moduliert er Licht und Schatten, Faltenwurf, Anmut und Bewegung als wären die Figuren lebendig. Gleichzeitig huldigt er damit der berühmten flämischen Tuchherstellung.
Fellweste anthrazit mit Ruwenzori Futter (€ 498)
Schnell schlüpfe ich in die Felljacke, kleine doppelsinnige Anspielung auf Johannes den Täufer in der Wüste und passend zu einer Ikonographie, in der alles viel mehr ist, als was es ist.
Vom Irdischen zum Himmlischen, immer wieder wechselt die Bilderzählung die Ebenen. Links über dem Stifter der Erzengel Michael, der die Verkündigung bringt. Er ist viel zu groß für den realen Raum, seine Welt besitzt göttliche Dimensionen. Die Flügel sind schwer, er beugt sich ein wenig vor unter der Holzdecke, in der Hand die Lilie, deren Stengel angeschnitten ist. Jedes Detail ist wichtig, nie lässt van Eyck locker in seiner unendlichen Beschreibungslust.
Alles wandelt sich vom Faktischen zum Interpretatorischen, so auch die Landschaft mit dem herrlichen Ausblick auf die flämische Stadt. Die Rundbögen sind romanisch, die damalige Zeit feierte schon längst die Hochgotik. Es ist Zeichen, dass der Engel von weit herkommt, dass die Geschichte schon lange zurück liegt. Daneben der Krug mit dem Wasser und dem weißen Handtuch, das in den Raum hineinragt. Ich erinnere mich, damals im Hörsaal haben wir stundenlang über dieses Symbol der Reinheit und das perspektivische Innen-und-Außen gesprochen.
Und nun Maria, halb weggedreht mit einem Buch (schon damals, eine lesende Frau!), den Kopf dem Erzengel zugewandt, so als würde sie lauschen. Auch sie in einem herrlichen Kleid mit unglaublichen Drapierungen. Schnell muss ich für Karen aufspringen, um meine Falten im Rock zu zeigen.
Abb: Rautenrock noch in XS, S und L verfügbar (Sonderpreis € 400), Gürtel Haeckel (€ 398)
Über Maria auf dem Kopf stehend die lateinische Inschrift: „Siehe ich bin die Magd Gottes“. Nicht zu lesen für die Menschen, sondern gedacht als Botschaft an Gott.
Ich notiere und notiere so wie immer, und Karen setzt einen Gedanken an den anderen, ich komme kaum nach, dazwischen eile ich noch schnell in die Küche für den Kaffee und den Kuchen. Ein Ende der Erzählung ist nicht in Sicht, denn nun geht es eine „Etage“ höher zu den Propheten und Sibyllen (Cousinchen hör gut zu!).
Die Propheten gehören zum Alten Testament, sie besaßen vor der Geburt Christi die dominierende Stellung zwischen Gott und den Menschen als diejenigen, die in die Zukunft schauen konnten. Dynamisch sind sie dargestellt mit ihren Schriftrollen und Büchern, aus denen sogar die Merkzettel hinausschauen.
Zum Schluss die Sibyllen, sie schlagen den Bogen zur heidnischen Artike, sie waren es, die als Erste verkündigten, dass die Welt durch ein Kind erlöst wird. Und nun schauen sie so lebendig von oben auf die unten Dargestellten, als könnten sie gleich dem Bild entsteigen.
Van Eyck wird zum kongenialen Übersetzer des Wortes in ein Bildgeschehen, er entfaltet eine endlose Intelligenz des Erzählens und schafft damit die Überleitung von der dekorativen Kunst in die naturalistische. Die Bewältigung der 3. Dimension ist der Schlüssel zum neuen Erleben. Wie muss das die Menschen damals gefesselt haben, besonders, da viele noch nicht lesen konnten.
Wir sind beim Kuchen angelagt und kurz mal komplett aus der Zeit herausgefallen. Ist es ein Uhr, ist es zwei Uhr? Euphorisch schauen wir uns an und können es kaum glauben, was für ein gewaltiges Werk wir besprochen haben und sind dabei doch erst bei den Außentafeln. 360 Tage im Jahr schauten, die Genter auf diese zwei Flügel mit den 12 Bildern. Eine überwältigende Freude muss es gewesen sein, als sich die Seiten zu Ostern, Allerheiligen und Weihnachten öffneten und man das Innere erblicken konnte?!
Karen ist schon in Mantel und Schal. Wir sparen uns dieses Erlebnis für das nächste Mal auf: Der Genter Altar geöffnet, so wie ich ihn mit 21 Jahren erlebte und mich im Geiste davor verbeugte.
Mein tägliche aha-Erlebnis (und hat nichts mit Abstand Hygiene Alltagsmasken zu tun.) warte jeden Tag aufs Neue. LG