Das 19. Jahrhundert ist die Epoche der Erzähler und deswegen liebe ich es, sowohl in der Kunst mit Werken von Caspar David Friedrich, wie auch in der Literatur mit E.T.A. Hoffmann oder Jane Austen. Allen guten Geschichten gemein ist, dass sie etwas Fragmentarisches besitzen, damit sich das Geschehen in unseren Köpfen weiterspinnen kann. Vielleicht ist deswegen das Interesse an der Ruine in damaliger Zeit so groß.
Abb: Caspar David Friedrich, Ruine von Oibyn, 1825.
Schon als Kind trieb ich mich an solchen Plätzen herum, am liebsten, wenn ein Zaun darum war, auf dem „Verboten“ stand, und ich genau wusste, dass meine Eltern wütend werden, wenn sie davon hören.
Es waren aufgegebene Orte, in denen die Decken halb runterhingen, man von oben bis in den Keller durchschauen konnte. Holzplanken mit riesigen Zimmermanns-Nägeln, die herausragten, Fenster, die man noch weiter zerschmeißen konnte, und ab und an fand man ein paar Überbleibsel von den Menschen, die dort gelebt haben: eine Matratze, ein Bücherregal mit ein paar runtergefallenen verstaubten Romanen, ein altes Waschbecken …
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In meinen Adventskalender mit dem Türchen No.19 packe ich solch einen Ort und die Erzählungen, die daraus entstehen. Es ist ein Samstag, hier oben im Norden scheint die Sonne, hinter mir brennen schon die Kerzen. Es wird nur noch wenige Stunden dauern, dann ist es so schummrig, dass wir beginnen können … Öffnen wir die Tür.
Es war einmal ein Ort … Es geht um den Spirit der verlassenen Gebäude, die uns zu Anthropologen werden lassen, der Wissenschaft vom Menschen, denn sie waren es, die den ersten Stein setzten und den letzten wieder entfernen.
Meine Fotos sehen aus, als hätte Rapunzel hier gelebt. Aber weit gefehlt, es ist der Innenraum hinter der Absis des Tempels von 1844 in der Poolstrasse in Hamburg. Endlich konnte ich einen Blick hineinwerfen und trotz der Zerstörung, die erst nach dem Krieg ihren Anfang nahm (!) begebe ich mich auf die Suche nach den Ursprüngen.
In den Regalen standen bis 1931 liturgische Objekte. Vielleicht saß der Rabbi hier, um sich kurz zu sammeln bevor er hinaustrat zum Altar und auf die Kanzel. Die jüdische Reformgemeinde füllte die Bänke in dem Mittelschiff und die Frauen saßen oben entlang der Galerie.
Es war Chanukka, das gestern zu Ende ging, Man feierte und erinnerte sich an die Einweihung des 2.Tempels von König David 164 v. Chr. Für die Reform-Juden war der heilige Ort jedoch hier in der Neustadt entstanden, das unterschied sie von der alten jüdischen Gemeinde. Deswegen nannten sie diese Stätte auch nicht Synagoge sondern Tempel.
Mit der Taschenlampe klettere ich über die runtergefallenen Balken. Ich hätte mir vielleicht andere Schuhe anziehen sollen, aber es geht auch so. Ein Schrank, dahinter das Klo.
Nach dem Krieg haben hier Menschen gewohnt, sicherlich haben sie gefroren in den Hungerwintern zwischen 1945 und 1947. Sie waren zusammengepfercht mit dem Wenigen, was ihnen geblieben war. Aber sie hatten wenigstens noch ein Dach über dem Kopf.
Meine Geschichte heute soll unbedingt eine gute werden, denn dieser Ort, auf den ich von der anderen Seite aus dem Fenster blicke, besitzt eine große Spiritualität, trotz seiner Zerstörung. Soeben hat die Stadt das Grundstück gekauft, hoffentlich wird sie wissen, wie man damit umgeht, um die Poesie und den Klang dieser Mauern zu erhalten. Kennen Stadtplaner die Anthropologie der Menschen in den Ruinen? Oder sollte man ihnen erst einmal Geschichten erzählen, wie sie das 19. Jahrhundert erzählt?
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