Gestern Nachmittag gab es die dritte Folge von „Töchtern erklären Müttern die Welt“ mit Roma (24), die uns „Der Fremde“ von Albert Camus vorstellte. Und die Gäste und Freunde kamen zahlreich, so dass sich vor dem knisternden Kaminfeuer kein einziger Platz mehr auf den eilens zusammengesuchten Stühlen, Höckern und Bänken fand. Das Buch passt so verstörend und irritierend in unsere Zeit: L’Etranger auf Französisch, The Stranger im Amerikanischen, The Outsider im Britischen und Der Fremde auf Deutsch – alles unterschiedliche Konnotationen, die Roma versucht, in ihrem Vortrag und im Gespräch aufzulösen. Das Buch stellte Camus wenige Tage vor Einmarsch der Deutschen in Paris fertig, wohin der gebürtige französisch Algerier gerade gezogen war. Es wurde noch mitten im Krieg 1942 von Gallimard veröffentlicht.
Der Ich-Erzähler Meursault ist erst zur Beerdigung seiner Mutter gefahren, dann hat er seine neue Freundin geliebt, andere am Meer besucht, den Araber erschossen und steht nun des Mordes angeklagt vor Gericht. Der Satzbau ist genauso sparsam wie die Gefühle des Hauptdarstellers. „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht …“, beginnt das Buch. Warum hat er nicht über den Tod der Mutter geweint, warum ist ihm egal, ob er Marie heiratet oder nicht, wieso hat er den Araber ermordet? … Weil die Sonne ihm ins Gesicht schien. Er weiß es nicht. Dabei ist er sich nicht fremd, was in unserer Gesellschaft der permanenten ich-Befragung noch mehr verwundert. Jedoch ist er den anderen fremd. Und das macht Angst, so dass über ihn das Todesurteil gefällt wird. – Die Diskussion vor dem Kamin ist lebhaft. Das Buch wurde auf unterschiedliche Weise gelesen, war der Araber der Aggressor, war es unerfüllte Mutterliebe? Nein, so war es nicht!
Das Fremde ist unvorhersehbar und bereitet uns deswegen Angst. Roma schlägt einen Bogen zu Zygmunt Bauman „Die Angst vor den Anderen“. Können und sollen wir uns das Fremde vertraut machen, um es besser zu verstehen und somit weniger fürchten? Warum zeigt die Hauptfigur so wenig emotionale Regungen, er ist doch sonst sympathisch, dieser Meursault. – Albert Camus erhält 1957 den Nobelpreis „für seine bedeutungsvolle Verfasserschaft, die mit scharfsichtigem Ernst menschliche Gewissensprobleme in unserer Zeit beleuchtet“, so das Komitee. Dieser Satz bringt uns jedoch nicht weiter. Roma reißt ein großes Thema in unserer Gesellschaft auf, dass sich allein schon in den verschiedensten Übersetzungen dokumentiert: der Ausländer, der Außenseiter, der Fremde … – Wieweit bleibt jeder in einer absurden Welt dem Anderen fremd?
Es ist dunkel draußen und milde an diesem frühen Sonntag Abend, die Tür steht offen und bei Kerzenschein gibt es stapelweise Crêpe mit selbstgemachtem Apfelmus. Wir trinken einen Wein, wir plaudern. Es war ein schöner Vortrag, Roma wird umringt, geherzt … Am Ende geht jeder Heim mit einer Fülle von Gedanken, die Welt lässt sich nicht so leicht erklären, und das machte diesen Nachmittag so besonders und das Buch so lesenswert, nicht nur einmal, sondern zweimal und immer wieder. Zuhause geht die Diskussion weiter, warum hat er … warum hat er nicht …? Roma liest die Likes auf ihrem Instagram Account.
Für nächsten Freitag steht die Lesung von Peter Prange „Eine Familie in Deutschland“ an, auch hier geht es um ein Fremdsein und eine Entfremdung in der Familie. Die Handlung spielt in Hitler-Deutschland bis zum Ausbruch des Krieges. Ich freue mich auf Euch und den nächsten außergewöhnlichen Abend. Peter Prange, Freitag, den 16.11., 19.30 Uhr.
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