Der Satz von Lew Tolstoi (1828 – 1910): „Beim Lesen kann man vorzüglich denken“ trifft auf dieses Buch zu, das ich am vergangenen It’s a Dienstag in Hamburg vorstellte und nun hier in meinem Blog: Iida Turpeinen „Das Wesen des Lebens“. Es ist der erste Roman der 1987 geborenen Finnin, die in Helsinki lebt und gerade an ihrer Dissertation über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Literatur arbeitet. Ein Überraschungserfolg, mehrfach ausgezeichnet und schon kurz nach seinem Erscheinen in über 20 Sprachen übersetzt. Soeben ist er auf Deutsch erschienen.
„Das Wesen des Lebens“ lässt sich nicht in wenigen Sätzen zusammenfassen. Es ist wie der Gang durch ein Naturkundemuseum, bei dem man unwillkürlich anhält und sich fragt, wie das Skelett wohl ummantelt mit Fleisch und Blut ausgesehen haben möge, in Bewegung, in seinem natürlichen Umfeld. Und dann schlendert man nachdenklich weiter und stellt sich die nächste Frage: Wer sind wir Menschen überhaupt?
„Das Leben beginnt mit der Urzelle, mit Verbindungen im Inneren eines Vestikels … und in den Tiefen des Urmeers findet der erste Geschlechtsakt der Erdgeschichte statt. … Die Fische steigen aus ihren Lachen. Sie lernen, sich über Land zu schleppen. … Das Säugetier wuselt vor den Füßen der Größeren umher und versucht nicht aufzufallen, doch dann ist es für die schrecklichen Echsen an der Zeit zu gehen. … Bald teilen sich die Plazentatiere in zwei Gruppen auf, und an diesem Punkt verabschieden sich Mensch und Seekuh (Anm. um die es in diesem Buch geht) voneinander. Sirenen und Primaten gehen getrennte Wege …
doch egal, wo sich der Mensch ausbreitet, verschwinden alsbald große Arten …“
Diese wissenschaftlichen Einschübe im Schnellgang finden sich verteilt über den Roman, der vielmehr eine Sammlung von Erzählungen ist, die miteinander zusammenhängen und sich über dreihundert Jahre spannen.
Ardmore Seidentuch, 135 x 135 cm (€ 480)
Es beginnt Mitte des 18. Jahrhundert mit der Entdeckung der Steller’schen Seekuh und der Expedition von Viktur Bering, die von Kamtschatka lossegelte, um eine Passage zur Neuen Welt zu finden. Sie entdeckten Alaska, jedoch auf der Rückfahrt strandete ihr Schiff vor einer unbewohnten Insel, die zum Aleuten-Archipel gehörte. Wird das Buch zu einer Abenteuer Erzählung? Irritiert lese ich weiter, verharre bei Sätzen, die verstören, wie der Mensch (und auch die Crew) sich der natürlichen Wesen bemächtigt als von Gott eingesetzter Herrscher über die Erde.
„Ein Teil der Männer mag den Geschmack von Jungtieren (Seeottern), und Steller beobachtet das Verhalten der Weibchen, die ihren Wurf verloren haben. Sie weinen wie kleine Kinder, und die Trauer dörrt sie so stark aus, dass ihr Fell innerhalb von zehn Tagen seinen Glanz verliert …“
Nur siebenundzwanzig Jahre nachdem der junge Wissenschaftler aus dem Team von Bering 1742 die riesigen Urwesen in ihrem abgelegenen Refugium entdeckte, in dem sie über Jahrtausende friedlich weideten, haben Pelzjäger die letzte Seekuh getötet. Übrig bleibt ein Skelett, dessen abenteuerliche Reise und Konservierung die Autorin verfolgt bis hin in unsere Gegenwart.
„Auf Englisch und Französisch wird eine Art ausgelöscht, das Leben brennt ab, verglimmt und verschwindet, und auf Deutsch werden Arten ausgerottet, aus der Welt gerissen wie Unkraut aus einem Garten, doch das finnische Wort bedeutet nicht den Tod aller. Auf Finnisch ist breites die letzte umherschwimmende Seekuh dem
‚Fehlen von Familie‘ ausgesetzt.“
Mehrfach spüre ich beinahe körperlich diese tiefe Betroffenheit angesichts der Beschaffenheit des Menschen. Und wie bei einem Gang durch ein leeres Naturkundemuseum, wenn die Schulklassen und meisten Besucher gegangen sind, bleibt eine Zwischenwelt zurück von dem, was einst war und nicht mehr ist, und eine „alles verschlingende, zarte Trauer, wenn wir dieses Tier betrachten, groß und sanft, für immer fort.“
Vintage Yves Saint Laurent Kette, 1980er, signiert (€ 2.200)
Ein wunderbares Buch. Ich habe es langsam gelesen, manchmal zurückgeblättert, Sätze unterstrichen und dabei mich eingefühlt in die eisigen Entbeerungen Sibiriens, das koloniale Unverständnis für Alaska, seine Urbewohner und seine Schätze. Dann der Ortswechsel Mitte des 19. Jahrhunderts nach Helsinki, der Wissenschafter von Nordmann, seine Zeichnerin Hilda Olson bis hin zu dem Vogeleier-Restaurator John Grövall. Bei Lesen lässt sich vorzüglich denken …
Das Shirt und das Buch gibt es bei uns in Hamburg und auf Sylt, und der Online-Bestellung ab € 150 legen wir die Lektüre dieses Wochenende als Geschenk bei.
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