„Das Jahrhundertfinale“, heißt es nach 121 Minuten Spielzeit. Gemeint ist das WM-Endspiel zwischen Argentinien und Frankreich, entschiedenen durch Elfmeterschießen, mit einem atemberaubenden Fussball-Krimi auf dem Feld und einem Sieg der Herzen. Auch wer kein Fan ist, konnte bei der Schönheit der spielerischen Schachzüge, der Dramatik der Konter und dem Adrenalin-Pegel beim Elfmeter in Entzücken geraten. Rund um die Welt wurde gefeiert und auch ein wenig getrauert um den zweiten Sieger: die Equipe Tricolore. In meinen Adventskalender packe ich die Ideen aus einem Interview einen Monat zuvor.

Es ist der 19. November 2022, ich lese die Seite Drei der Süddeutschen Zeitung, die immer ein wenig essayistisch ist, manchmal auch mit einem ausführlichen Interview, so wie heute mit dem argentinischen Fussballtrainer Lionel Scaloni, 44 Jahre alt. Ich bin kein Fussball Insider, manchmal zitiere ich ironisch Sepp Herber mit seiner philosophischen Sparsamkeit: der Ball ist rund, und das Spiel dauert 90 Minuten. Seit gestern wissen wir, er irrte.

Sorgfältig und neugierig studiere ich den Artikel, falte danach die Seite, bewahre sie auf und weiß am 19. November 2022, dass Argentinen die Fussball-Weltmeisterin gewinnen wird. Ich erzähle es Laura, der Generalkonsulin von Argentinien, die damals noch besorgt ist, Deutschland wäre doch stark, Braslien ebenfalls … – Argentinien verliert drei Tage später gegen Saudi Arabien. Passiert, sie werden trotzdem siegen. Warum? Weil sie Lionel Messi haben? Das auch, aber es geht um etwas anderes:

1. Es wurde dem unerfahrenen jungen Trainer Lionel Scaloni Zeit gegeben, um seine Manschaft neu aufzubauen. „Ein vierjähriger Prozess wurde respektiert.“ Man stellte sich hinter ihn, als andere ihn als Looser beschimpften, der nicht mal die Ampeln einer Straßenkreuzung regeln könne. 2. Er schöpfte aus seiner Erfahrung als Profifussballer („habe viel Fussball konsumiert“). 3. Er gruppierte um sich ein Trainerteam mit alten Freunden und mit außergewöhnlichen Charaktereigenschaften, die Ruhe ausstrahlen, die die richtigen Worte für die Spieler finden, die mit ihren Instinkten arbeiten können. – „… sie riechen die Gefahr, den Fehler“.

4. Er schuf private Beziehungen unter den Spielern. „Ich bin mir sicher, dass man mehr gibt, wenn man mit dem Spieler befreundet ist, der neben einem steht“, verriet Scaloni. 5. Und dann rief er Messi an und sagte: „Leo, wir werden die Selección für diese Spiele übernehmen, und wir wollen dich wissen lassen, dass die Türen offen sind – aber dass es vielleicht besser ist, wenn du erst mal nicht kommst.“ Der Trainer verzichtet auf seinen Star, auf sein Ass, um erst einmal eine gefestigte Gruppe aufzubauen. Das ist nicht nur enorm mutig, das ist auch das zentrale Geheimnis für den Erfolg.

Der Rest ergibt sich. Fussballspielen können sie, große Talente sind sie. Aber sie haben wieder gelernt, einfach nur Fussballer zu sein, die mit Begeisterung spielen, die leiden, die gewinnen wollen, die für die anderen auf dem Platz da sind, sie sehen, spüren und unterstützen. Und so entstehen diese genialen Pässe, diese vorbereitenden Strategien bis daraus ein Tor wird. Damit gewinnen die Argentinier ihre Fans, die sie durch die Spiele tragen bis zur Meisterschaft.

Es berührt mich, und so gehöre ich zu den Millionen Zuschauer*innen die jubelend, kreischend und gebannt gestern Nachmittag vor dem Monitor saßen. Mein Adventstürchen: Gewinnen, weil man nicht vergißt, wer man ist, wo man herkommt, sich als ein Chacarero (Landbauer) versteht, wie die Eltern von Lionel Scaloni, der schaut, ob es den Kühen und dem Weizen gut geht, der die Dinge beim Namen nennt … und Weltmeister wird.